17. September 2006, Spiegelzelt Altenkirchen

Sizilien meets Korsika

Zweiter Tag des musiktrunkenen Wochenendes. Der Westerwälder Monsunregen prasselt unaufhörlich auf das Spiegelzelt. Petrus hätte dem mediterranen Treffen ruhig passenderes Wetter beisteuern können. Der Nachmittag zieht sich wie Gummi. Irgendeiner hält die Zeit fest.

Die Zeit tickte sich dann doch in den Abend. Sizilien und Korsika hatten ihren Soundcheck – nacheinander, für gemeinsam blieb keine Zeit. Viertel vor acht - Helmut nutzt die Gelegenheit für kurze Gespräche mit den Ehrengästen und betreibt ganz nebenbei ein wenig Eigenwerbung. Völlig zu Recht, denn er und sein Team leisten hier wirklich Großartiges. Heute Abend ist auch das politische Parkett vertreten sowie viele Sponsoren anwesend. Ich bin sicher, sie sehen ihr finanzielles Engagement gut investiert. Erwartungsvoller Applaus braust auf, als Stéphane und seine Band die Bühne betreten. Inzwischen sind Silvia und er ein eingespieltes Team für ein paar kurze Worte über sich und seine Musik. Die nächste Stunde überschreibe ich ganz unbescheiden mit dem abgewandelten Cäsar’schen Wort: er kam, sang und siegte. Die ehrlichste Art einen Künstler kennen zu lernen, ist ganz nah, live, aufrichtig, im direkten Kontakt mit seinem Publikum, nur er und seine Musik. Genau das macht Stéphane heute Abend: seine reiche, voluminöse Stimme, drei Gitarren, ein wenig Bass und Perkussion – that’s all! In Rekordgeschwindigkeit kehrt er die anfängliche abwartende Neugier in aufmerksames Staunen und Begeisterung. Josefinas Stimme fegt wie eine frische Meeresbrise durch die Zuschauerreihen und scheint alle gleichzeitig zu elektrisieren. Sie bringt spanisches Temperament nach Altenkirchen. Mit Flamencofeeling bekommen Stéphanes Balladen einen eigenen Touch. Und sie brilliert mit Eigenkompositionen. No digas mas nada bestätigt sich als echter Hit, man möchte aufstehen, tanzen, mitmachen.

Stéphane besingt in seinen Liedern die tiefen Wurzeln zu seiner Insel, dem Land, das ihn geprägt hat und ihn fordert. Sie sind auch die gedankliche Verbindung. „Die Gitarre ist immer bei mir, sie singt dir meine Lieder. Zitadellen, die der Wind gebaut, Tränen meiner Leidenschaft, ich brauche keine Schlösser aus Gold, keine Güter, keinen Gewinn, nur den Abend hier auf dem Land, den endlos weiten Sternenhimmel“ (aus Oghje e dumane). Aufrichtiges Bekenntnis zu seiner Heimat. Beide, Josefina und er, sind zwar in ihrer musikalischen Tradition verwurzelt und fühlen sich ihr verpflichtet, aber beide haben auch das Selbstbewusstsein, die Tradition in die heutige Zeit zu führen.

Jean-Marie spielt den Bass sehr markant, weich und satt. Jean-Bernard huscht ein zufriedenes Lächeln übers Gesicht, als er prüfend über seine Gitarre ins Rund blickt. Die beiden machen das Klangbild farbig und voll. Die Gitarren machen einen runden Sound, lassen die Töne flirren und liefern sich ein ständiges Duell, haben Tempo, als ob sie sich gegenseitig anspornen müssten. Der heftige Starkregen bildet inzwischen eine ungeplante Soundkulisse. Doch das stört hier niemanden mehr. Das Publikum hat längst alle Zurückhaltung aufgegeben und klatscht begeistert mit. Der letzte Song gehört Stéphane allein. Töne wie Sterne so hoch, eine Stimme wie Sonne und Mond. Herzklopfenschön. Erfolg misst sich heute Abend in Dezibel und Applaus – er nimmt gar kein Ende, sogar der Zeltboden muss herhalten.

Pippo und Enzo lassen die spätsommerliche Wetterdepression vollends vergessen und starten mit Marrakesh ins Programm. Enzo zieht ein paar wenige in bunten Farben schillernde Töne unter Pippos Tasten, es bekommt eine ganz eigene Dynamik. Vancouver, Dr. Jekyll und Mr. Hyde klingen auch mit nur zwei Gitarren ganz schön rockig. Enzos Handschrift! Er zupft und pflückt die schönsten Riffs und Tunes. Und höre ich da ein wenig Schmutz auf der Stimme? Dann eines der ewigen Lieblingslieder auf der langen persönlich Favoritenliste: Terra ist immer wieder ein Ereignis: „über die Grenzen trägt uns ein Lied mit sich fort“ ist Enzo wie er leibt und lebt.

Was wären diese Abende ohne Pippos Geschichten. Er ist der geborene Storyteller, der in seiner liebenswert heiteren ernsthaften Art von den Wegen seiner Reisen erzählt. Er wünscht uns Utopien, weil sie einen Weg zeigen können, erzählt von seiner drei Jahren dauernden Weltreise, die ihn schließlich in die Schweiz gespült hat, von der langen Zeit, die er nicht in seinem Heimatland aufgetreten ist, der Zeit der Annäherung, und wie er sich heute besonderes reich fühlen darf, weil er beide Sprachen, beide Leben versteht, im Herz und im Kopf. Aus dieser Zeit ist Questa sera. Auch ein Stück eigene Lebensgeschichte ist Sotto la Ruota – das trotzige „unterkriegen lass ich mich nicht“ ist weit mehr als nur Lippenbekenntnis. Chiramonte Gulfi ist eine musikalische Episode eines vergangenen Sommers, mitreißend wie ein ansteckender Partyhit kommt es daher. Heute kam ein schöner Zufall des Weges. Wenn man einen Freund trifft, mit dessen Wege sich die eigenen jahrelang nicht kreuzten, dann braucht es nicht viel Überredungskunst, dass man diese Begegnung auch musikalisch feiern muss! Pippo improvisazione! Er überlässt Santino die Gitarre und ungeprobt, ohne Netz und doppelten Boden, einfach aus reiner Spielfreude, feiern sie ihr Wiedersehen in einer italienischen Session der allerherzlichsten Art.

Ein Abend voller Überraschungen. Ganz dem Motto des Abends verpflichtet, haben Pippo und Enzo tief in die Songkiste gegriffen und einen alten Publikumshit wiederbelebt. In einer Art sizilianischem Singspiel La lu la le lu la le…. erprobt er die Sangesfreude der Altenkirchener „Ihr sprecht ja perfekt Sizilianisch! aber wie immer, es singen nur die Frauen, das ist bekannt, jetzt sind die Männer dran und dann gibt’s gemischten Salat“. „Das geht besser“, fordert er, „schon mal nicht schlecht, aber mit ein bisschen mehr Sturm und Drang bitte! Goethe ist sicher auch in Altenkirchen gewesen!“ Eine fast schon ausgelassene Stimmung im ausverkauften rappelvollen Spiegelzelt. Enzo spielt sich anschließend in einen kleinen Rausch, während Pippo skeptisch zum Zeltdach blickt, als bange er, dass es die folgende Nummer nicht überstehen könnte. Er präpariert das Tamburin, richtet das Mikro und ergibt sich in ein rasantes Solo. Die Haare fliegen, der ganze Kerl ist ein einziger Temperamentsausbruch.

Jetzt bestätigt sich das Motto, Korsika trifft auf Sizilien. Pippo bittet Stéphane, Jean-Bernard, Jean-Marie und Josefina auf die Bühne. Riesiger begeisterter Applaus. Sie haben sich Bella Ciao als erste livehaftige Zusammenarbeit ausgewählt. Stéphane und Pippo singen die Strophen im Wechsel und das Publikum ist schier aus den Häuschen. Stéphanes Stimme hat Volumen, hat ein ganz anderes zuhause und ist zu Pippos erdigem Ausdruck ein spannender Gegensatz. Ausgiebiges Völker verbindendes Musikspektakel, „über alle Grenzen ist ein Lied“, welch eine Bestätigung! Dass es zu Ende sein soll, will niemand akzeptieren, alle wollen in die Verlängerung. Beinahe ekstatische 10 Minuten lang lässt das Publikum nicht nach in seiner Forderung nach einer weiteren gemeinsamen Zugabe und schließlich kommen Pippo, Stéphane, Enzo und Josefina tatsächlich noch einmal auf die Bühne. Ihre Gesichter strahlen um die Wette. So viel Glückgefühl lässt alles möglich sein, sie schweben ein bisschen, überlassen Josefina diesmal den Gesangspart und die Gitarre, Pippo sitzt am Flügel, Stéphane hat irgendwoher das Tamburin geschnappt, seine Gitarre bleibt leider unplugged, macht nichts, Enzo macht das schon...

Zeitgeber, ändere den Takt, den Verteilerschlüssel. Jetzt gleich, bitte! Nimm von mir aus dem Zeit weg, der Zahnping hat und schenke mir noch ein paar dieser unbezahlbaren Fünfminütchen. Oder lass die Zeit einfach ein bisschen still stehen, den Rausch auskosten, die Glückhormone blubbern. Kann es nicht noch ein bisschen weiter gehen? Die Verbeugungszeremonie will gar kein Ende nehmen, Winken und Verabschiedungen in vielen Sprachen sagen alle das Gleiche: es hat riesig viel Spaß gemacht und wenn ihr wollt, kommen wir wieder.

Ich sehe noch, wie Pippo auf Stéphane zustürmt, seine Hände nimmt und drückt und ihm ein herzliches überschwängliches „Félicitations“ und „Tanti auguri“ überbringt. Mir lacht das Herz. Ich könnt’ sie knuddeln die Beiden. Es war einfach wunder-wunder-wunderschön!

Christel Amberg-Wiegand für www.erlebtemusik.de

Fotoalbum Soundcheck
Fotoalbum Konzert