Pikanterien in vier Akten oder die neuen Leiden des jungen Tom
Tom Haydn mit "Pikanterien" im BKA Theater in Berlin - 30.01.2008 bis 02.02.2008

von
Christel Amberg-Wiegand
 

Sie umgibt immer noch dieses Flair voller Fragezeichen, Tom… wer? Und sie sind ein noch immer viel zu sehr unterschätztes schillerndes Dreigestirn am Himmel der Chansonkabarettisten und ähnlich hochglanzfeinsinniger Wort-, Musik- und Gefühlsjongleure. Aber sie arbeiten fleißig daran, dass sich dieser Geheimtippnimbus ändert. Ihr viertägiges warm up und work out im BKA-Theater, Berlin, bietet den anspruchsvollsten Abend- und Nachtschwärmern Gelegenheit zu einer hochkarätigen Ouvertüre in das Nachtprogramm. Sie - das sind Jo Barnikel am Flügel, Norbert Nagel an Klarinetten und Saxophon und dazwischen Tom Haydn, Nürnberger mit österreichischen Wurzeln oder doch umgekehrt? Auf jeden Fall ein Fingerkussschnalzer. So ein Publikumspreis und 2. Platz beim Stuttgarter Chanson & Liederwettbewerb 2007 kommt schließlich nicht von ungefähr!

Die Lampenfieberschübe sind auskunftsgemäß erträglich und mehr. Unsere auch. Wäre schlimm, wenn nicht, schließlich sind wir hier - noch - nicht bei der hundertfünfzigsten Show im Tipi. Das Kribbeln um den Bauchnabel will nicht weichen, ein großer Teil davon ist Vorfreude, der Rest Nebenwirkung einer Überdosis Adrenalin: die Mittwochsshow zum Warmlaufen auf die Generalprobe morgen und die Kür am Freitag für eine Live-CD- und DVD-Produktion und das anschließende Schaulaufen am Samstag.

Tom beweist Mut und gesundes Selbstbewusstsein, als er sein Programm mit einem brandneuen Titel „Frühling“ eröffnet und mit dem ersten Satz punktet: „Das Wetter da draußen ist meins!“. Für die wenigen, die dem Ereignis nicht beiwohnen konnten, sei festgehalten: man nennt es Schietwetter. Und wer da glaubt, ein laues Frühlingsliedchen fliederbeduftet und rosa begeigt würde das vergessen machen können, ist völlig auf dem falschen Wetterkanal. Tom Haydns Frühling ist eine einzige Qual. Hochdramatisch. „Nabelfrei und Arschgeweih, die ganze Augenpein“, die neuen Leiden des jungen Tom. Es sind tiefschürfende Gedanken über Klimawandel und Mannesleid in Notzeiten von Testosteronüberschuss im Spannungsbogen von Angebot und Nachfrage.

Beim anschließenden „Tauben vergiften im Park“ erzeugt dann lustvoller Taubentod beim promenieren höchstmögliche Frühlingsgefühle. Der Kreisler-Klassiker steht auch Tom Haydn gut zu Gesicht. Mit umwerfender Mimik und Witz und Schmäh lässt er seine Figuren leben. Die frech-spöttische Klarinette eines Norbert Nagel und das unverschämt unschuldigste Piano der Welt eines Jo Barnikel rollen den roten Teppich aus für die herrlich schräg bis liebevoll-böse Welt des Tom Haydn. Ein Hochgenuss, den beiden zuzuhören und zu sehen, welches Timing sie füreinander entwickelt haben. Norbert und Jo wissen nicht nur diese pikant-würzigen Geschichten in ebensolchen Klangfarben zu malen, sondern auch den Raum zwischen den Noten zu füllen.

Nicht nur die Songtexte haben es in sich. Vorzugsweise geht es um übermütige, lebensbejahende, strotzende Themen wie Liebe im Alter, Depressionen, Affären, Betrachtungen über die Ehe im Stadium höchster Konsensfähigkeit, Bewusstseinsbildung in Wahljahreszeiten und immer wieder über die Liebe und den Tod. In seiner schönsten Form. Also, wer gelebt stirbt, ist definitiv auch tot. Aber schöner. Aus moralischen Gründen verzichten? Kommt gar nicht in Frage, dann schon lieber unmoralisch. Lotterhaft. Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben. Die Dramaturgie des Programms beschert mir immer wieder ein heftiges Wechselbad der Gefühle, beklemmende atemlose Momente und lästerlich-lustvolles bis schadenfrohes Lachen als Rettungsanker vor dem emotionalen Notstand. Diese Achterbahnen auf der Gefühlsskala haben ein besorgniserregendes Adrenalin- und Endorphinausschüttungspotential. Wenn einem irgendwo zwischen launig-lustig, knisternd, vielleicht sogar in vorleidenschaftlicher Hochstimmung ist, kommt unmittelbar darauf der Bruch in tief empfundene Leere. Es sind die stillen Momente, zwischen einem kleinen quälenden doch beglückenden Augenblick, wenn der letzte Ton noch im Raum schwebt und dem stürmischen überwältigenden Applaus, der die Zeit wieder zum Laufen bringt. Manche Lieder hinterlassen eine so ungeheure Anspannung und Stille im Raum, die selbst die Verursacher staunen lässt.

Die kleinen hinreißenden Plaudereien zwischen den Liedern fesseln mich mindestens ebenso. Auch nach x-ten Mal Hören kann ich über das agrarstrukturierte inzestuöse Dorf um das Milchbankl herzhaft lachen. Den Senior-Ministrant mit der Vorliebe für Rindfleisch und Semmelkren nehme ich Tom ohne weiteres ab. Und die Ballade über die Metzgerin treibt mir jedes Mal aufs Neue Lachtränen in die Augen und bereitet höchstes Hörvergnügen, wenn Herr Nagel die Feste feiert wie sie fallen: Hochzeitsfest, Schlachtfest und finaler Liebesakt. So übermütig, spritzig, so voller Elan, dass er kaum zu bremsen ist.

Und nach der Pause wagt Tom allabendlich bei den Damen in der ersten Reihe ein durchaus unmoralisches Angebot. Er sucht und hat gern direkten Kontakt zu seinem Publikum und wickelt es ganz nebenbei um den Finger. Ja, meine Damen, da möchte ’frau’ doch mal dem Wiener Charme eines Tom Haydn erliegen und den Abendabschnittsgefährten nach Hause schicken. Na und? Gelegentlich ist sein Blick auf die Dinge des Lebens schon mal schamlos und unverfroren. Tom Haydn wie er leibt und lebt! Und seine Lausbuben finden immer und in jeder Tonart ihr absolut stimmiges Gegenstück in Musik, keine Nuance an Stimmung geht ihnen durch – hier ist alles handmade, ohne Netz und Synth, alles echt. Nicht eine Note geschummelt. Betonung, Ausdruck, Tempo … mal schillernd skurril, mal poetisch, mal übermütig frech, mal in grenzenloser Tiefe ins Nichts sich auflösend … Jeden Abend neu und anders und immer ist es die Inspiration dieses Moments. Für Musiker ihres Kalibers ist dieses Programm ein Eldorado für übermütige und einfühlsame Improvisation und für immer neue Kabinettstückchen; ein herrliches Duell ohne Sieger, nur das Publikum! Die Drei beherrschen die Kunst der musikalischen Verführung. Das Zauberwort ist Authentizität. Bis ins kleinste Notendetail. Spätestens wenn nach der Pause der helle „Wahnsinn“ Bühne und Theater erfasst, brennt die Luft. Ein schwülgeiles Saxophon entfacht das Feuer und Jo Barnikel darf löschen. Ein Schwelbrand bleibt. Das Lied gegen den drohenden Hodenhochstand. Dafür gibt es Szenenapplaus, Johlen und Pfeifen und einen fetten feisten Beifallssturm.

„Für mich soll’s rote Rosen regnen“ ist Toms großes Geschenk an das Berliner Publikum. Die Rosen erblühen jeden Abend roter, strahlender, sündiger, verheißungsvoller und in tiefer Verneigung an Hilde Knef und Freude über die Begegnung mit dem Sohn des Komponisten im letzten Jahr genau hier. Er hat sozusagen die Absolution erteilt für Toms „Originalversion“. Trotz und wegen der gehörigen Portion Schmelz wird es lautstark und begeistert angenommen und beklatscht!

Das zweite neue Stück aus Toms Feder ist „Geh! (aber geh ma ned verlor’n)“ und ein weiterer Beweis, wie Tom die Balance zwischen großem Gefühl und einer sensiblen Leichtigkeit darunter austariert. Seine Bühnenpräsenz gibt jedem seiner Lieder eine ungeheure Intensität ohne zu erdrücken. Es schnürt mir den Magen zu. Das geht unmittelbar unter die Haut und an jeder einzelnen Nervenzelle des Rückenmarks runter wie Eiswürfel. Wenn mir’s mal wieder nach heulendem Lachen ist und praller Lebenslust, dann muss Tom Haydn her, unbedingt!

Auch im Pikanterien-Programm hat André Heller seinen Platz. Ein paar handverlesene Titel wurden aus dem großen Haydn-singt-Heller-Programm herausgelöst und aufs maximale Minimum reduziert. „I mechat unsichtbar sein“, „Lilliputaner“ und natürlich „Bitter und süß“ erhalten eine Verdichtung auf drei mit Intensität hoch drei. Den letzten Abend beschließt endgültig „Wenn i amal stirb“ und es ist hinreißend, schon beinahe komisch, wie frech und respektlos Tom Haydn dem vorletzten Aggregatzustand den Schrecken nimmt. Da kann man nichts mehr drauf setzen, das Samstags-Publikum ist restlos überzeugt und begeistert, tobt! Anspruchsvoll? Aber bitte doch. Es bietet sich nur selten Gelegenheit, über vier Abende diese Entwicklung mit zu erleben. Wenn überhaupt Kritik, würde ich mir den ersten Teil etwas länger wünschen, die gefühlte Zeit ist zu kurz, kaum dass man richtig „drin“ ist, kommt schon das Break. Das Programm hat erstmal sein Finish für „was“ und „wann“ bekommen, sie sind bereit zum Schaulaufen der Sieger. Tom wirkt losgelöst und frei, seine Lausbuben begleiten ihn wie immer souverän und witzig-spritzig durch Dur und Moll des Lebens. Ein letztes Mal baden im Applaus, im Bühnenlicht. Ausverkauftes Haus fühlt sich gut an. Viel später erst macht sich Wehmut breit, aber auch eine gewisse Sättigung. Wie nach zu vielem guten Essen: müde, erschöpft, satt und zufrieden, aber um nichts in der Welt einen Gang ausgelassen haben wollen. Die Bilder im Kopf sind jederzeit abrufbar, die Töne dazu liegen auf einer eigenen Spur. Es gab eine Entwicklung hin zum Höhepunkt mit diesem grandiosen Abschluss. Ein Gefühl, wie nach einer Überdosis Glück. Endschuldigung, Jungs, wenn ich so überschwänglich meine Begeisterung und Freude kundtue, da halte ich es gerne mit Luther: ich stehe hier und kann nicht anders.

Fotoalbum Konzert
 

Christel Amberg-Wiegand für www.erlebtemusik.de