Fortsetzung:

Tom Haydn führt bei seiner Premiere auf dem Rheingau-Musik-Festival mit seinem Programm „Haydn singt Heller“ zurück zu den Wurzeln André Hellers. Im beschaulichen Innenhof des Weinguts Fritz Allendorf in Östrich-Winkel scheint der wahrlich abenteuerliche Auftakt ein herber Kontrast zu sein zu dem lieblichen weinseligen Ambiente. Doch „Die wahren Abenteuer sind im Kopf“!

Zum Abschied meiner letzten Begegnung mit Tom Haydn und seiner Band versprachen sie, in der folgenden Pause ein bisschen am Programm zu feilen. Nanu, dachte ich damals, was gibt’s denn da noch zu verbessern? Doch jetzt höre ich genau diese überraschenden Kleinigkeiten, die da herausgearbeitet wurden. Die räumliche Enge auf der kleinen Bühne hebt scheinbar noch die Dichte, Präsenz und unglaubliche Virtuosität hervor! Und erzeugt eine gewisse Intimität. Der erste Teil des Programms gehört den eher melancholischen Liedern Hellers. Tom singt sie mit der rechten Portion Wehleidigkeit, Schwermut, Süße in der Stimme, ohne kitschig zu sein. Eine gehörige Dosis Ironie und Frechheit der Interpretation sind seine eigene Legitimation. Hellers Urwerk ist mir unbekannt, ich mag es gar nicht vergleichen wollen. Toms wunderbare Welt ist für mich genau so richtig und gut. Die Klangfarbe seiner Stimme hat genau die richtige Süße, den Schmerz, den Wehmut, den Schmäh, das Wienerblut, ernsthaft und doch auf die leichte Schulter genommen, bevor es droht kitschig zu werden oder gar Pathos aufkommt. Weit entfernt davon, gelingt es ihm spielend, das Hellersche Liedgut in die Jetztzeit zu transportieren ohne das Verbindungsseil gänzlich zu kappen. Eine Verjüngungskur mit der nötigen Patina der Vergangenheit.

Die Band, allesamt Vollblutmusiker und Meister ihres Fachs sowieso, legen das Fundament, spielen ihm zu und arbeiten abertausend Feinheiten heraus. Wie eine Kompanie von Hochseilartisten, die sich absolut blind aufeinander verlassen  können, schrauben sie sich immer weiter in die Höhe mit verbundenen Augen traumwandlerisch sicher über ein dünnes Seil bis zum finalen Schlussakkord. Tom ist mit Recht stolz auf sein Ensemble und spart nicht mit Lob.

Ich habe dieses wunderbare Programm nun schon einige Mal gehört und bin immer wieder neugierig darauf und hingerissen von der federleichten Interpretation. Da passt einfach alles zusammen. Sehnsüchtig frech respektlos flehend und trotzig. Gekonnt übertrieben und hemmungslos gewildert in allen musikalischen Stilrichtungen. Sehr entspannt, dann wieder druckvoll und mitreißend. Das Publikum hat längst erkannt, dass es sich der Dame und diesen Herren dort auf der Bühne vertrauensvoll hingeben kann. Es gibt immer wieder riesigen Szenenapplaus. Gekonnte Stil- und Tempowechsel von furios angejazzt in den Walzer und schlagerschwülstig hinüber zum Charleston gebluest. Jessica Hartlieb entzückt mich immer wieder aufs Neue, wenn alles Herzeleid der Welt sich in ihren Tönen verpackt wieder findet. Wenn sie „Wenn i amal stirb“ in den höchsten Tönen ausklingen lässt, schwebt mit dem Klang die Seele in den Himmel. Magisch! Thomas Simmerl liefert die feinste Percussion, die ich mir denken kann. Unglaublich feinfühlig hält er die Lieder und fügt ihnen wohldosiert Akzente hinzu.

Norbert Nagel, der Magier mit seinen Klarinetten, Saxophonen, Querflöte und auch am akustischen Bass schickt mir immer wieder Schmetterlinge in den Bauch. Klarinettentöne zum Dahinschmelzen, Klezmer mit allem darin enthaltenen Freud und Leid, die Querflöte fließt dahin, schelmisch freche Saxsoli und himmlische Töne aus der Bassklarinette. Viel Raum zur Improvisation mit seinem musikalischen Seelenverwandten drüben am Flügel. Dort entdecke ich gerade eine zweite Tastenetage. Jo und Norbert liefern sich immer wieder wahre Tonduelle. Mit höchstem Vergnügen liefern sie zusammen mit Jessicas Violine einen wunderbaren  Dreiklang - „Bitter und süß“ ist er. Dann ist es ganz still im Publikum, bevor der letzte Ton verweht und der Applaus erlöst.

Die zweite Halbzeit ist etwas leichter, humorvoller, „liederlicher“ angelegt. Die Ouvertüre ist dermaßen spritzig witzig zusammengestellt. Mit Klassikern und Gassenhauern nehmen sie das Wiener Repertoire auf höchstem Niveau auf die Schippe. Da haben sie so viele Musikteile zusammengepuzzelt, manchmal nur ganz kurz angedeutet, da kommt man mit dem Hören kaum hinterher. Richard Kleinmaier lässt den 3. Mann an der Gitarre so perfekt erklingen, dass sich unmittelbar die Bilder im Kopf  einstellen. Da ist Norbert Nagel der Zeremonienmeister. Er gibt das Tempo vor, stoppt aus vollem Lauf und springt augenblicklich auf den nächsten Zug, bevor Tom wieder mit auf die Bühne kommt. Das ist nicht nur ein Ohrenschmaus, das ist auch optisch eine Augenweide, was das auf der Bühne inszeniert wird. Spätestens jetzt haben sie das Publikum im Sack! Das macht auch den beiden Technikern hinten am Mischpult viel Spaß, sie amüsieren sich königlich heute Abend. Die beiden kennen ja das Programm bereits seit seiner Premiere, sorgen für den richtigen Ton, der auch heute wirklich glasklar und rein, wohldosiert in der Lautstärke ist und jedes Instrument mit seinen Feinheiten herausstellt. 

Bei dem ein oder anderen Juwel möcht’ ich  am liebsten auf Stopp drücken, zurückspulen und auf die Repeat-Taste drücken. "Wie mei Herzschlag", "Wenn die Liebe geht", "Und dann siehst du sie". Kaum verklungen, entführen sie mich in die nächsten überraschenden Klangwelten. Perfektes Timing und immer wieder feinste Duette und Duelle, mit scharfen Musikwaffen ausgetragen schlagen sie Wunden, die überhaupt nicht wehtun, aber schmerzvoll lebendig und heilend hypnotisieren. Es ist ein Bad in einem großen Meer unendlicher Weite. Galaktisch fern und doch so in sich geschlossen.

Das Finale dieses fantastischen Abends ist wie immer der Dylan-Klassiker „Für immer jung“. Da stimmt das Publikum natürlich gern mit ein und feiert die Musiker ausgiebig in einer langen Hymne. Auf dass die Lieder und man selbst vielleicht für immer jung bleiben…Und diese Premiere im nächsten Jahr einen weiteren Besuch im Rheingau verspricht!

Christel Amberg-Wiegand für www.erlebtemusik.de