Fortsetzung:

I Muvrini en grande scène

Am folgenden Nachmittag treffen wir in Brüssels „Forest National“ ein. Ein freundlicher Mann von der Security begleitet uns durch die Katakomben in die Arena. Da bin ich schon das erste Mal platt. Himmel, wie groß! Nicht ganz so wie in Bercy, dafür wirkt es sehr viel kompakter, geschlossener. Unzählig viele Menschen wuseln herum, ein TV-Team, die Hallentechniker von Licht und Sound,  die Musiker kommen kurz darauf hinzu. Ein langwieriger Soundcheck läuft ab. Es sieht wie ein großes Durcheinander aus, aber irgendwie läuft alles wie an unsichtbaren Fäden zusammen. Einige wenige Titel nur werden immer wieder angespielt, bis der Sound für die Instrumente und die Vocals stimmen. Und das soll nachher alles passen? Ich staune.

Während dieser beiden Tage habe ich einen kleinen Einblick hinter die Kulissen einer solchen Show werfen dürfen. Ich zolle allen Musikern und Beteiligten höchsten Respekt! Keine Minute Ruhe, permanente Präsenz und abends, wenn die Show beginnt, frisch und wach sein und für das erwartungsvolle Publikum das Beste geben. Auch nach der Show ist noch lange nicht Schluss. Das Tourleben bedeutet immer lange Tage, kurze Nächte, viele Kilometer Weg, irgendein Hotel, eine Halle, viele Gesichter, viele Gespräche, viele Eindrücke, ungezählte Stunden Warten auf den großen Auftritt.

Der findet eindeutig heute Abend statt! I Muvrinis große belgische Fangemeinde ist heute im „Forest National“ - ausverkauft! Zig tausend aufgekratzte Besucher klatschen sich schon warm, lange bevor es losgeht! Eine prächtige Kulisse für diese Show. Das Publikum ist  vom ersten Ton an voll dabei.

Abgesehen vom Giru auf Korsika sind I Muvrini ja mit diesem Programm schon einige Wochen unterwegs. Der Set steht also weitgehend fest, aber seit ich sie in St. Avold das letzte Mal gehört habe, haben die Jungs noch kleine Änderungen vorgenommen. Sie haben sehr genau hingehört, was gut geht oder nicht. Das Publikum muss immer wieder neu erobert werden. Was gestern noch funktioniert hat, geht heute vielleicht nicht so gut. Dafür explodiert die Luft auf einmal bei ganz anderen Tönen. Jeder Abend ist eine Herausforderung. Alle vorherigen Abende waren Übung für Paris und Paris die Generalprobe für Brüssel! Es liegt was in der Luft – das ist heute der absolute mega Superabend! Keinen Deut weniger! Es ist, als seien alle wie entfesselt. Als ob sich eine Spannung entlädt, die sich lange für diesen Abend aufgebaut hat. Vielleicht ist auch zusätzlich motivierend, dass heute Abend für eine DVD aufgezeichnet wird.  Ich kann es auch im Nachhinein schwer in Worte fassen. Elektrisierend bis noch spät in die Nacht hinein.

Schon der Opener „Omi E Donne“ ist eine Sensation: Unter Klatschen und mit den Füßen stampfen verlieren sich fast die ersten Gitarrenklänge, als die Musiker nacheinander auf die Bühne kommen. Ich glaube, sie schweben schon ein bisschen. Dann ein verzerrtes Gitarrenriff und Alain kommt auf die Bühne, ENDLICH einmal begleitet von einem verdient riesigen Applaus. Auf den Videoflächen glitzern Sterne im Meer. Achim zaubert an den Keys passend Töne wie Wassertropfen hervor. Vom ersten Moment ist jeder auf der Bühne hundert Prozent parat, eine unglaublich erwartungsvolle Spannung liegt in der Luft.

„Di quale si l’amore“ kommt viel „gehaltvoller“ als ich es von der Umani in den Ohren habe, das Publikum nimmt schon mal den Takt auf, als die magentafarbene Schrift mit den Textlinien im Hintergrund gezeichnet wird. GF wendet sich hinüber zu César und scheint ihm so etwas wie „hey, heute Abend machen wir ein bisschen Budenzauber“ ins Ohr zu flüstern. Seine herzliche Begrüßung wird immer wieder von zustimmendem Klatschen unterbrochen „Vous êtes notre plus belle récompense“.

Dann schon das erste Highlight des Abends: Die farbenfrohen Kirchenfenster zaubern ein besonders schönes Licht auf die Bühne. Sieben Stimmen zelebrieren „Agnus Dei“. Dazu Achims schwere mächtige Töne. Unfassbar. Ich lausche wie gebannt. Tränen steigen mir in die Augen. Gänsehaut.

GF erzählt von der Verbindung mit Südafrika, dem Weg dorthin, wie es dazu kam, dass Alma dort „geboren“ wurde und welche Gedanken ihn dorthin begleiten. „Thank you my Boss, Merci Patron“. Ich glaube, dieses Land lässt einen nie mehr los. „Faites de jamais plus". Faith und Bongani, die beiden Sänger aus Johannesburg werden sehr herzlich begrüßt. Patrick schnappt sich die Akustikgitarre. „Fate“. Faiths helle engelgleiche Stimme liegt über dem warmen tiefen Gesang.

Die Goodies von gestern sind veredelt worden. Neu aufpoliert, dem neuen Sound angepasst. Sehr dynamisch, sehr dicht, sehr mächtig. „Ùn ti ne scurdà“ lebt natürlich auch von Césars toller Stimme. Und vom Dialog der Stimmen von Alain und GF und Achims Piano. „Diteli“ mit den traurigen und leidvollen Kinderbildern im Hintergrund ist eine Farb- und Lichtorgie. Stéphanes und Alains Stimmen kommen hinzu und Loïc mit dem Dudelsack betritt aus dem Hintergrund die Bühne und füllt die Luft mit tausend Tönen. Wie ein tosender Orkan! Später, bei „Rispondimie Iè“ kommen Achim mit dem Akkordeon, GF mit der E- und Patrick mit der akustischen Gitarre sowie Laurence und César an den Bühnenrand. Dazu spielt Loïc auf der kleinen Flöte eine bezaubernde kleine Melodie, betörend schön. Zusammen mit Faith und Bongani sehe ich Martin  und Stéphane wie sie sich eingrooven. Eine prächtige ausgelassene Stimmung und das Publikum scheint geradezu darauf gewartet zu haben, mitmachen zu dürfen.

GF ist der perfekte Dramaturg, er hat sein Publikum im wahrsten Sinne des Wortes in der Hand. Ein kleiner Fingerzeig genügt, und das Rund folgt ihm. Große Gesten, seine typische Art, Danke zu sagen, das Strahlen seiner Augen reicht bis ganz weit oben in die letzte  Reihe. Mit jeder Bewegung zeigt er seine unbändige Freude. Er bekommt es tausendfach in nicht enden wollendem Applaus zurück. Doch er teilt es mit seinen Musikern, er nimmt nichts für sich allein. Ich habe auch Alain selten so gelöst und lachend auf der Bühne gesehen wie heute Abend.

„Alma“ zerreißt mich ein zweites Mal. Alains klarer Tenor, GF fast wie murmelnd, beschwörend daneben und beinahe unerträglich, wenn die fünf Männer am Mikrophon ihre Stimmen erheben. Sie geben ein Versprechen. Ehrlich und aufrichtig. Das Coverbild der CD auf den vier Projektionsflächen zeigt GFs offene Hand. Darin und mit seiner Musik offenbart er uns seine Seele. Nun ist es Alain, der Laurence in den Arm nimmt. Und ich habe das zweite Mal heftig Gänsehaut.

„Per Amore“ reißt die Stimmung herum, belebend, fetzig kommt es daher, mit tanzendem Dudelsack, der überschlägt sich fast noch mal in den Refrain. Loïc und Bongani pflegen afrikanische Tänze und haben mächtig viel Spaß dabei. Pfeifen, Klatschen, Füße trappeln, ein frenetischer Applaus, das Rund scheint zu beben. Eine unglaubliche Stimmung. Heute ist einfach alles drin! Auch im Kleinen: „Di“.  Mit Achims Begleitung (endlich Piano!) zu GFs kleinem Gitarrenspiel wird es zu einer wahren Kostbarkeit! Ich schmelze dahin und möchte es am liebsten festhalten, wie kleine Lichter schweben die Töne durch den Raum.

Der Musiker und Schriftsteller GF ist auch ein wunderbarer Vorleser. Er stellt uns mit kleinen Texten („Le verbe être“ ist anrührend schön) sein neues Buch „Carnet pour Sarah“ vor. Eindringlich, ernsthaft und doch mit einer gewissen Portion Heiterkeit. Er trifft sehr genau den Ton, die Gratwanderung zwischen Unterhaltung und so etwas wie heiterer Belehrung gelingt ihm spielend. Es ist mucksmäuschenstill, wenn er liest. Sein Publikum hört ihm zu. Szenenapplaus und Lachen beweisen Interesse und Aufmerksamkeit. Patrick hat ganz leise das Thema zu „Et le temps qu’il fera“ aufgegriffen.

Im Bühnenhintergrund hat sich klammheimlich ein Mädchenchor aufgestellt. GF bat sie beim Soundcheck näher zusammen zu stehen, damit der Klang dichter wird. Ein kompletter Durchgang „Le Temps…“ musste reichen. Jetzt klingt es einfach toll! Der helle Mädchengesang ist ein wunderbarer Kontrast zu GFs und Alains „ernster“ Stimme vor der farbenprächtigen Kulisse der Paglia Orba. Die Mädels ernten natürlich von ihrem Publikum standing Ovations und strahlen mit GF um die Wette. Eine tolle Idee, für diesen Abend den Zauber des Liedes von der CD auf die Bühne zu holen. Der ganze Saal stimmt in den Refrain ein, summt leise die Melodie mit bis sie sich irgendwann verliert.

„Umani“ ist wieder ins Programm gekommen! Mit dieser Nummer leiten sie eine richtig fetzige Session ein. Es wäre bestimmt auch beim Publikum bestens aufgehoben gewesen, aber es geht nahtlos weiter mit „VAI“ - ebenso rasant, wie die Eisenbahn durchs wildromantische Korsika braust. In blaues Licht getaucht, richtig schön rockig kommt „Chi Sarà“. Das wird ordentlich lang und ausgiebig zelebriert. So drei schöne rockige Titel am Stück mischen uns ordentlich auf, da gibt’s mächtig viel Dampf unterm Dach. GF stellt froh und formvollendet seine Musiker und die Sänger vor. JEDER bekommt SEINEN Applaus! Die Stimmung schaukelt sich richtig hoch, auf einmal ist die Bühne voll, alle Mannen und Frauen sind da, klatschen, winken und freuen sich mit uns über den gelungenen Abend.

Wir erklatschen uns als erste Zugabe „Filicone“. Alain kommt unter tosendem Beifall auf die Bühne. Laurence übertönt uns fast mit dem langen Geigenintro. Endlich, auf Achims tönernem Klangteppich klingt die korsische Hymne an „Diu vi salve Regina“ in dieser außergewöhnlichen rockigen Version. Kommt sehr sehr gut an mit Schlagzeug, Gitarre und Bass, der Rhythmus ist ein bisschen verschoben, nicht ganz so tragend, aber nicht minder stolz und erhaben die Stimmen. Loïc passt da ganz hervorragend hinein. Er liefert das nötige Pathos, das nun einmal eine Hymne braucht. Sie klingt aus am Klavier und an der Gitarre, während GF lange Worte findet. Perfekte Inszenierung, das Publikum lauscht still und fast ehrfürchtig seinen Worten, bis es endlich den verdienten Applaus rauslassen darf. Ausklatschen in epischer Breite, jubilierend die Gitarre oben drauf und endlich, endlich darf es raus aus voller Kehle und übervollem Herzen: „A voce Rivolta“: ein Fest, eine Hymne auch, die ewige Königin des Abends, jedes Abends! Vom ersten Ton ist das ganze Rund dabei. Längst sind alle aufgestanden und feiern. Bestimmt länger als eine Viertelstunde. Unendlich! Darauf, denke ich, kann eigentlich nichts mehr kommen, doch weit gefehlt. Noch einmal wird der Hocker hineingebracht, auf dem GF von hier oben fast verloren wirkt, als er dieses kleine groooooße Lied anstimmt, das mir so am Herzen liegt. Es wird plötzlich ganz still im Saal, eindringlich zart und leise kommen die Töne vom „Réve“ über die Bühne und heute hat das Publikum verstanden. Es nimmt den Refrain ganz leise auf und trägt ihn ganz sacht davon. Der kleine Fingerzeig hat ein großes Wunder bewirkt und den Traum leben lassen. Wie genieße ich es! Brüssel, Ihr seid wunderbar! Ihr seid aufmerksam, herzlich und ein ehrliches sangesfreudiges Publikum. Noch immer schwirren die Traumtöne, während schon die Abschiedszeremonie eingeleitet wird. Winken, Lachen, Verbeugen, ein Bad in der großen Dankeswelle des Publikums. GF bedankt sich herzlich bei allen Mitwirkenden hinter und vor den Kulissen. Er vergisst auch nicht Kim Altmeyer und ihre Schüler von der Rheingauschule. Sie haben „Letterelle“ vorbereitet, kleine bezaubernde Briefchen mit ihrem Händeabdruck und mit Zitaten aus der CD. Sie haben vier Schilder gebastelt mit den Buchstaben A-L-M-A und zwei Spruchbänder mitgebracht, die sie jetzt in den Lichtspot halten. So zeigen die Jugendlichen ihre Verbundenheit zu I Muvrini, dem Land und der Kultur Korsikas.

Minutenlanges Klatschen, Pfeifen und Trappeln zwingt die Musiker noch einmal auf die Bühne, wir sind einfach noch nicht satt. Ich möchte das Gefühl noch nicht aufgeben. Zum Glück geht es den Musikern wohl ebenso, sie wollen diesen besonderen Abend noch ein wenig auskosten und schenken uns dafür „Terra“, klar und einfach und umso stärker in der Wirkung. Sieben Sänger rund ums Mikrophon mit Faith in ihrer Mitte. Terra klingt aus, Faith erhebt ihre glockenreine Stimme zu einem letzten Lied. Ihr Lied. Direkt erhebend, die Männer folgen ihr mehrstimmig zum großen Finale. Irgendwo sind wieder Töne von „A voce rivolta“ zu hören…. Plötzlich ist GF wieder da: er führt im langen Reigen die Mädels des Chors Hand in Hand im Rund über die Bühne. Die Mädels lachen und winken und genießen ihren großen Auftritt. Was für ein schönes Bild! Sie baden förmlich in ihrem Applaus. Einige Zuhörer sind schon gegangen,  sie versäumen eindeutig Sternstunden, denn tatsächlich geschieht etwas ganz Besonderes heute Abend: ein allerletztes Mal – unfassbar - Improvisation ist angesagt, die Menschen wollen einfach nicht gehen. Die Bilder werden noch einmal aufgezogen, „Per Amore“ zum letzten Mal, Loïc und Bongani grooven,  sie haben wohl noch jede Menge Energie nach knapp drei Stunden dieser super Liveshow. GF ist total in seinem Element, strahlt und ist so was von happy, ich sehe es von hier oben. Ich glaube, alle sind heute ein bisschen über sich hinausgewachsen. Ich habe noch nie eine so emotionale Aufführung gesehen. Nicht gefühlsduselig, aber ehrlich und aufrichtiges Gefühl auf beiden Seiten. 

„Alma“ ist sicher für eine große Bühne gemacht. Große Inszenierung, das Programm nimmt Raum und Tiefe zum Wirken. Das Licht und der volle Sound wirken fast hypnotisierend. Aber ich kann mir ebenso gut vorstellen, wie es in „klein“ gehen kann. Ich bin sicher, die Musiker werden die Feinheiten aufs Beste herausarbeiten. Eine Essenz von… und eine Dramaturgie, deren Wirkung sich allein aus der Kraft der Musik schöpft und ausbreitet.

Brigitte hat ein weiters Mal mit Ihren Bildern die besondere Atmosphäre und die Seele dieser Abende eingefangen.

Christel Amberg-Wiegand für www.muvrini.info