Fortsetzung:

Das WIR zählt!

Oder ist es bloß Zufall, der uns zusammen führt? Im Sinne von unberechenbaren Geschehen, die sich unserer Vernunft und Absicht entziehen? Es ist schon eine lieb gewordene Zutat zu den Konzerten von I Muvrini, dass JF sein und ihr Denken und Handeln in kleine Geschichten fasst, die Kim für uns auf Deutsch erzählt (Danke!). Jene vom Zufall handelte vom Kapitän und den verlorenen Manschettenknöpfen… Zufall entscheidet darüber, wo ein Mensch lebt und wie, vielleicht sogar ob; so wie JF eben Korse ist und nicht Afrikaner, Inuit oder Same. Wobei ich glaube, dass er nur als Korse diese sich gestellte Aufgabe so erfüllen kann, wie er sie erfüllt. Die Frage, warum sie und wir hier sind, aus Zufall oder doch ein bisschen aus Liebe, beantwortet sich ohne wenn und aber in den nächsten zwei Stunden. Alles berechenbar und in voller Absicht. Vernunft ist viel zu sehr Kopf ohne Bauch, I Muvrini ist erst Bauchgefühl und daraus kann Vernunft erwachsen, so die Hoffnung, der Wunsch, der Glaube, der JF antreibt. Darin ist er unermüdlich, und unsere Begeisterung und Freude, die jeden Abend auf die Bühne strömt, beflügelt und bestätigt und straft jeden Zufall Lügen. Für I Muvrini ist Musik grenzenlos, weil sie jede Grenze in den Köpfen und in den Herzen der Menschen auflösen kann. Darin sind sie wirklich unermüdliche Botschafter und herzlich gern Bindeglied zwischen Menschen aller Herrn Länder.

Die Luft ist knisterig gespannt. Jedes Mal braust ein heftiger Begrüßungsapplaus los, wenn die Band ihre Posten einnimmt. Cesar als human Voicebox ruft Jean-Francois auf die Bühne, noch mehr Applaus für ihn, dann dampft Loic von hinten mit dem Dudelsack herein und Alain und Stéphane übernehmen kurz drauf die Stimmenhoheit. Es ist der Anfang von Sara, der die erwartungsvolle Spannung erstmal löst. Nur in der Dresdener Lukaskirche entstand eine ganz eigene, fast schon beklemmende, ehrfürchtige Stimmung, weil niemand diesen ersten Moment traute mit Applaus zu erdrücken. Die Szenerie mit dem ganzen Bühnengeraffel vor dem Altar unter dem Kreuz mag zunächst ein bisschen befremdlich wirken. Doch dort ist die Musik ebenso richtig, wie auf den Bühnen der Clubs und Hallen der Welt. Es ist unmöglich, sich der Wirkung der Polyphonien wie Agnus Dei zu entziehen, schon gar nicht hier. Drei Stimmen, Stephane, Alain und Jean-Francois sind in diesem Moment „eine Stimme“, in der eine atemlose Stille fast die Zeit anhält. Am Ende war ich sehr beeindruckt von diesem Konzert. Es war ein großes Fest mit einer überwältigenden Atmosphäre, die alle mitgerissen hat zum gemeinen Singen. JF begeistert die Menschen mit seiner Ausstrahlung und die Herzen fliegen ihm förmlich entgegen. Er passt gut darauf auf, da bin ich mir sicher! Jedes einzelne ist ihm wichtig. Wie oft steht er am Bühnenrand und bedankt sich überschwänglich in großen Gesten, Luftgitarre spielend und schickt uns einen Handkuss und ein lautes Danke hinterher. Mit so viel Lachen und Freude im Gesicht, die gar nicht genug Platz haben!

 „Terra humana“ als Titel dieser Tour ist in allen Liedern zu hören, er zieht sich wie ein roter Faden durchs Programm. So habe ich habe das erste Mal erlebt, dass I Muvrini englisch singen. Und sie haben nichts Kleineres als Blowing in the wind ausgewählt. Klingt anfangs ungewohnt, aber mit der Kraft und Unterstützung vieler Hundert Kehlen geht das sehr in Ordnung! Die Setliste ist so etwas wie das „Best of“: Alma natürlich!, Quand Hé, das durch Alains Stimme so wunderbar strahlt, ein wuchtiges E ghjé cusi, das sich mit Sara zu einem Lieblingsstück der neueren Liedergeneration gemausert hat, der treibende Rhythmus von Quandu sentera mit Florence’s ausgedehntem Solopart und, was mich besonders freut, Un ti ne scurda! Da steht Thomas Simmerl in voller Lebensgröße vor seinen Gerätschaften und liefert mit dieser Rastamuschelschalenrassel und den Filzklöppeln auf den Becken ein spannungsgeladenes Intro. Allein das ist schon eine Reise wert! Dann die Cetera dazu – einfach sensationell. Großes Kino! Di quale si l’amore als zweites Stück fehlt nicht und gleich darauf Ti mandu, („Ich schenke dir… wir machen ein großes Fest daraus, wo nur noch die Liebe siegt, denn nur was verschenkt wird, blüht auch auf“*) das durch die Charango und die tief näselnde Klarinette einen unverkennbaren Sound bekommt. Und es gab ein sehr gelungenes, bewegendes Wiederhören von Amsterdam. A voce rivolta ist und bleibt ein Muss und ist auch ein bisschen erneuert worden. Eine straffe Gitarre verschafft sich über den Dudelsack Gehör, spätestens ab jetzt ist Korsika in Deutschland, egal ob Darmstadt, Dresden oder Hannover. A te corsica macht mir jedes Mal Fernweh. Geige, Keyboard und die kleine Flöte schalten bestimmt nicht nur mein Kopfkino ein. Sie hatten auch schon Neues im Gepäck wie Golu caru, in dem sie korsische Geschichte und ihr dramatisches Schicksal besingen. Mit der eingängigen Melodie, Gitarre, Geige und ordentlich Schlagwerk drunter klingt es ganz in der I Muvrini-Tradition und hat zweifellos das Zeug zum zum ….

JF ist ein großartiger Erzähler, mit Wärme und Eindringlichkeit legt er nicht nur in der Musik sein Herz auf die Zunge. Dank Kims Übersetzung verstehen alle die Bilder in seinen Texten von Werten, die er in die Wiege gelegt bekommen hat, der Menschlichkeit, die ihm wichtig ist und unabdingbar für alle Kulturen und Menschen dieser Welt: z.B. Respekt vor dem Wissen und dem geleisteten Leben der Alten. Liebe und Achtung vor der Natur, „l’amour de la terre“, dem Samenkorn, das alle Bauern der Welt pflegen und ohne das es kein Weiterleben gibt, diesem kleinsten Etwas als das Größte. Die kleine Fabel von dem, der so gerne seine größten Wünsche wie Frieden und Freiheit in der Welt, Bildung, Solidarität, Nahrung, Sicherheit, Schutz und Wohlstand für jeden, erfüllt sehen möchte und deshalb seine Bestellung einem „Zauberladen“ übergibt, jedoch im kleinen Lederbeutel letztlich nur die Samen vorfindet, nicht jedoch die Früchte, gräbt sich wohl jedem tief ins Gedächtnis ein. Doch Wünsche können gedeihen und groß werden, sagt er, wenn man nicht aufhört, an sie zu glauben. Und etwas dafür zu tun! So gibt es viele atemberaubende Momente, leise, zarte, die das Herz bluten lassen und große, ausgelassene überschwängliche Freude auf einer gemeinsamen Wellenlänge.

Viele der Besucher – so habe ich es immer wieder aufgeschnappt - haben I Muvrini während eines Korsikaurlaubs kennen gelernt und nehmen jetzt die Gelegenheit wahr, dieses Urlaubserlebnis, dieses Urlaubsgefühl und dieses „mehr“ zu vertiefen. Lässt es sich auffrischen, erneuern, bekräftigen? Kommt es überhaupt wieder, oder ist es ein kleiner musikalischer Urlaubsflirt, der vergeht, verfliegt und nur eine schöne Erinnerung bleibt? Nein, keine Gefahr, diese Musik ist grundehrlich und tief verwurzelt. Deshalb verkonsumiert sie sich nicht einfach, es ist ein gemeinsames Erleben und ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Aufeinander zugehen im Kulturaustausch auf kleinstem gemeinsamem Nenner – der Musik. Wir müssen lernen, miteinander und nicht gegeneinander zu sein. Diese Überzeugung steckt in jedem gesungenen und gesprochenen Wort und nährt das Vertrauen, dass dieser Weg der einzig Richtige ist. Jetzt ist es aber nicht so, dass ein Konzert von I Muvrini vor lauter Ergriffenheit und Botschaft anstrengend wäre, ganz im Gegenteil. Es ist eine große Feier, nein, ein riesiges Fest. Spätestens wenn Loic aus dem Hintergrund auftaucht und den Dudelsack aufbläst, gibt es kein Halten. Gaià, der didaktische Liederreigen war schon während der Frühjahrstour ein großes Vergnügen und der Spaß kommt auch jetzt nicht zu kurz. Da stehen Stéphane, Alain und Kim und haben einen Mordsspaß, uns mit den Worttafeln durch die eingängige Melodie zu führen.

Schön, dass JF uns die Band vorstellt. Jeder soll wissen, wer den für den schönen Lärm verantwortlich ist. Reihum ernten die Musiker ihren Applaus und keiner von Ihnen nimmt ihn für sich allein, er gehört auch immer allen! Alle Mann und Frau sur scène sind sie zu neunt! Achim Meier setzt jetzt immer öfter hörbar Töne mit Anfang und Ende ein. Thomas Simmerl ist manchmal beinahe unsichtbar hinter seinen Gerätschaften, aber nie unüberhörbar! Mit seiner Schlagzeugerei werden viele melodieschwere Lieder schön griffig und die Großen noch größer! Er liefert nicht nur ein rhythmisches Gerüst, sondern das große Aha, den Glamour, den Glitzer, der Hotspot im Sound von I Muvrini. Er bringt Gehalt und Würze hinein. Unaufdringlich, doch hundertprozentig passend und stimmig und mit absoluter Präzision. Wucht und großer Bums wo’s richtig und nötig ist, aber sich reduzieren, so wenig wie möglich - so viel wie nötig, diese Kunst beherrscht er meisterlich. Er versteht sich blendend mit dem Neuen an den Gitarren. Der hat gleich beim ersten Auftritt mit der Band ahnen lassen, dass er mir viel Freude bereiten würde mit seinen beherzten Saitensprüngen! Nicht beschränken auf Begleitung, nein, er hat Akzente gesetzt, Ausrufezeichen! Sichtbare Zustimmung auf der Bühne, reichlich lob-lob Blickkontakte und natürlich megagroßen Applaus. In Dresden hatte er sich schon frei gespielt und in Hannover brachen sämtliche Dämme, als er völlig losgelöst ein Solo in Di einpflegte, das mir das Wasser in die Augen treibt. Er hebt es auf ein neues Level, macht es zu einer schönen rockigen Ballade. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Wer sich nach drei Tagen so unschüchtern einbringt und herausragend Gehör verschafft, fühlt sich nicht unwohl. Hat ihn das korsische Virus gepackt? Ich hatte Gelegenheit, Kosho nach der Cetera zu fragen, ob er sie kenne oder schon einmal gespielt habe und wie das denn sei. Nein, er kannte sie nicht, tolles Instrument, na ja, halt Seiten, nur ein paar mehr. So einfach ist das, wenn man Herr der Saiten, Stege und Griffe ist…. dann klingt einfach mehr als „nur Töne“.

Die Verabschiedungszeremonie wird jeden Abend länger und immer hoffe ich auf ein Wiederkommen. Die kleine Lukaskirche wollte schier platzen, wie gut, dass sie ein hohes Kirchenschiff hat, wo diese Freude Platz hat. A voce rivolta wird dort großartig zelebriert, rockt richtig los, mit einer ungeheuren Sogwirkung: Das Publikum ist längst Bandmitglied. Es will gar nicht enden! Davon war ich echt überwältigt und habe nicht an eine Steigerung glauben wollen – und wurde eines Besseren belehrt. Die Anspannung der Tage entlädt sich förmlich dann in Hannover. Das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, vielleicht die Menschen ein bisschen glücklicher, auf jeden Fall reicher, verdoppelt und -dreifacht sich mit der ausgelassenen Stimmung im Publikum, das vom ersten Moment an wie elektrisiert mitgeht. Ein ganz besonderer Abend. Schon lange vor dem Ende hält es niemanden mehr auf den Sitzen. Die kleinen Leuchtkugelschreiber flackern wie Glühwürmchen im Dunkel und es endet lange nicht. Inzwischen kennt jeder die Wirkung zu genüge – diese Droge Gesang und volles Haus und tolle Band und sich treiben lassen…. Es ist eine gigantische Glückswoge, auf der Band und Publikum reiten, die Gitarre fräßt die Töne in die Luft, der Bass wummert darunter, aussingen, wo doch die Band schon längst am Bühnenrand steht und diesem ausgelassenen Treiben im Saal ungläubig zusieht. Sie fallen sogar in so etwas wie Schunkeln, jedenfalls beklatschen sie diesmal uns. Das Capitol tobt. Und niemand geht. So etwas wie Ekstase macht sich breit, das Publikum bleibt wie gebannt stehen, pfeift, klatscht, singt…, bis jemand hinter der Bühne zum ersten Mal die Entscheidung trifft, wir müssen noch mal raus! Es wird ein langer musikalischer Showdown mit dreifachem Rittberger am Ende, die Rhythmusabteilung fest im Blick lassen sie es dreimal ordentlich krachen, bevor es wirklich zu Ende ist - zu Ende glaubt zu sein. Der Bann ist noch nicht gebrochen. Doch die Regler sind schon alle unten, was geht am besten ohne alles? Polyphonie – die Kraft der Stimmen noch einmal erleben. Diesmal mit Terra.

Welch ein hypnotisierender Abschluss! Was für ein Gefühl, das sich in den Herzen gefangen hat! Was für Augenblicke, die die Augen nicht wieder hergeben! Was für Klänge, die in den Ohren festgeschrieben sind. Tausend Dank dafür!

*) aus der Übersetzung der Rheingauschüler in Geisenheim, die I Muvrini herzlich und freundschaftlich verbunden sind

Christel Amberg-Wiegand für www.muvrini.info