Fortsetzung:

… denn böse Menschen haben keine Lieder!

Ich muss euch unbedingt von etwas ganz Tollem erzählen, stellt euch vor, ich habe etwas sehr sehr Schönes erlebt! Als ich im Dezember in Frankfurt bei der Nokia Night war, ist mir die korsische Gruppe I Muvrini besonders in Erinnerung, besser gesagt, im Ohr geblieben. Und dann habe ich erfahren, dass I Muvrini wieder nach Deutschland kommen – ganz anders diesmal, denn sie wurden mit Band angekündigt. Es gibt offensichtlich zwei Musikseelen in I Muvrini. Ich also hin und habe mir eine Karte gekauft für den Frankfurter Hof in Mainz und erfuhr dann, dass es in die Phönixhalle verlegt wurde und dann später wiederum in die Christuskirche. Konzertverlegung sozusagen im Mainzer Dreisprung! Ich wunderte mich erstmal darüber, ich wusste ja auch gar nicht, was mich erwartet, meine Fantasie reichte einfach nicht aus, die NOTP-Erinnerung von I Muvrini irgendwie weiter zu denken. Jetzt weiß ich, dass es etwas ganz Besonderes ist. Das ist kein bloßes Konsumieren, sich unterhalten lassen, sondern ein Geben und Nehmen, ein Teilhaben am Denken und Fühlen, an der Freude und an der Traurigkeit, am Leben. Für zwei Stunden rücken alle ein bisschen näher zusammen. Am Ende nehmen wir alle etwas vom anderen mit. Und noch etwas war besonders: es war der Abend des 29.02., Schaltjahrdatum. Es reguliert die Zeit der Welt, gleicht sie aus. Hier empfand ich noch etwas anderes: zwei Stunden sich die Zeit verlangsamen- zwei Stunden sich die Zeit in Musik auflösen.

So könnte doch wirklich jemand denken, der I Muvrini zum ersten Mal live hört und sieht. Ich weiß nicht, ob an diesem Abend ein paar neugierige, erwartungsvolle Musikfreunde dort waren, die jetzt zu den Freunden von I Muvrini gehören. Es wäre schön, wenn es so ist.

Mir tut es einfach unglaublich gut, hier zu sein. Ich höre, ich erlebe, ich tauche ein in die Musik wie in ein Meer von Tönen, Harmonien, Rhythmus und Gesang und will gar nicht wieder auftauchen. Es sind schöne Melodien, wunderbare, reine, strahlend lebendige Stimmen und eine Band, die dem ganzen ein buntes, maßgeschneidertes Kleid verpasst. Viele Verzierungen, ein paar kleine feine hübsche Details, nicht musikalltägliche Instrumente und über allem diese unbändige Lust und Freude am Singen und Musizieren und gemeinsam auf der Bühne sein und die Menschen begeistern. Das ist richtig ansteckend. Mir ist, als kenne und liebe ich die Musik schon immer und höre sie jetzt seit langer Zeit wieder einmal live. Als sei ich auf der Suche nach etwas gewesen und habe es jetzt wiedergefunden. Heute sind meine Antennen ganz auf diese Musik ausgerichtet. In bedauerlicher Unkenntnis von Korsisch und Französisch trifft der Input hauptsächlich auf das Gefühl, und das voll und ganz und trotzdem fehlt mir nichts. Ich bin glücklich.

Für I Muvrini ist die Zeit nicht stehen geblieben. Nach wie vor verstehen sie es hervorragend, die Musikelemente ihrer korsischen Heimat mit denen von Weltmusik zu verbinden. Das macht die Musik sehr lebendig und es ist immer ein Erlebnis – diesmal ein ganz und gar seltenes, denn sie sind mit Band nach Deutschland gekommen, großer Bahnhof, neun! Musiker stehen abwechselnd oder gemeinsam auf der Bühne. Und „Band“ heißt auch bei I Muvrini Schlagzeug, Gitarren, Tasten, Bass, Geige, Gebläse und drei Sänger. Da ist für Abwechslung gesorgt. Dazu braucht es auch kein „Bühnenbild“, farbige Lichtspots genügen völlig. Musikalische Anleihen aus aller Herren Länder sind die südamerikanische Charango, die Setara aus Korsika, der Dudelsack… Auf Alma war Südafrika ein großes Thema, bei Umani unter anderem der nahe Osten. So ganz nebenbei wird Korsika für einen Abend Mittelpunkt der Musikwelt. Ich finde, das ist Weltmusik im Wortsinn.

Und sie legen gleich mit einem der schönsten Lieder der neuen CD los: Sarà! Achim, Martin, Patrick, Loic und Cesar nehmen im Dunkel der Bühne ihre Plätze ein, Applaus begleitet sie, dann erfüllt das mächtige, wohl dröhnende Aufbrausen des Dudelsacks die Kirche. Links steht Cesar und verwandelt sich mal kurz in eine „human beatbox“, ich glaube so heißt das, wenn man sein Gesicht, seine Wangen, sozusagen als Schlagzeug einsetzt. Solcher Art schickt er nämlich Töne und Worte hoch in die Kuppel und hat den Überraschungseffekt voll auf seiner Seite. Eine originelle Idee, Perkussion einmal ganz anders. Man könnte meinen, er rufe damit JF auf die Bühne. Wieder Applaus. Auch Alain und Stéphane werden mit großem Applaus empfangen. Alle Männer vollzählig angetreten, es kann losgehen. Laurence kommt später hinzu und bezaubert nicht nur mit ihrem Geigenspiel. Ich schätze, es sind etwa 1000 Zuhörer hier, die I Muvrini einen wirklich großartigen, herzlichen Empfang bereiten. Sie setzen gleich mit Di quale si l’amore nach, einen der vielen Umani-Hits. Er schaltet sofort mein Kopfkino ein, es groovt sich so schön da hinein und die weißen Lichtstrahler hoch in die Kuppel malen ein stimmungsvolles Bild dazu. Patrick wechselt auf die Akustikgitarre, sehr weich und rund ist jetzt sein Output. Diteli lebt ganz besonders von Alains Tenor, da kommt Loic wieder mit dem Dudelsack zurück auf die Bühne – egal ob das Brummen des Dudelsacks (menschgemacht, quasi Lungenarbeit) oder die Klarinette tief und nasal im Klang – er sorgt immer wieder für klangvolle Ausrufezeichen.

Band und Publikum sind inzwischen längst zu einer Einheit verschmolzen. Zeit für neues Material Ti mandu – Ich schenke dir - klingt lebhaft, munter, flott, mit etwas Neuem im Klangbild, der Charango – ein ganz eigener Klang, den ich noch öfter hören werde. Die Zuhörer haben beim Hereinkommen von Schülern der Brasiliengruppe der Rheingauschule in Geisenheim ein kleines Geschenk, eine Textrolle mit eingedeutschtem Text von Ti Mandu – Ich schenke dir - zusammen mit drei Bohnenkernen erhalten, dies ist der Song dazu.

Was mir – für meinen Geschmack - auf der neuen CD durch den Chor etwas zu „glatt“ gerät, bekommt hier auf der Bühne mit Bandcharakter einen ganz neuen Anstrich. Durch die Vielzahl der Instrumente bekommen die Lieder einen anderen Drive, erhalten mehr Substanz, Struktur und irgendwie einen neuen Charakter. Aber in welchem musikalischen Gewand sie auch daherkommen, sie sind immer voller Seele und Herz und sprechen voller Aufrichtigkeit zu uns. Das trägt jede einzelne Note, jeder Akkord, bis oben zu den Zuhörern auf der Empore.

Eines dieser Herzstücke ist Agnus Dei – und eines meiner Lieblingstitel der anderen musikalischen Identität von I Muvrini. Korsische Polyphonie hat auch in diesem Programm ihren Platz. Die Stimmen von Alain, Stéphane und JF tanzen umeinander, umgarnen sich, dazu sehr fein Achims Tastenkunst, zentriert es sich ganz intensiv nach innen. Wie viele Male hab ich es gehört? Es klingt immer voller Wärme und Seele und sehr sehr von Herzen kommend. Und immer, wenn JF am Ende des Liedes nach einer kleinen Stille den Applaus freigibt, wirkt diese kleine Geste wie eine Verbeugung.

I Muvrini spannen den Bogen ihrer musikalischen Vergangenheit bis in die Gegenwart. Für diese Tour haben sie einige der besten Songs der Vergangenheit und die meisten der aktuellen CD zusammengestellt. Ich habe A la terra intera vermisst und Veiller Tard und noch ein paar andere. Wie immer ist die Zeit  einfach zu kurz, dafür sind diese gut zwei Stunden mindestens doppelt und dreifach wertig. Die Musik lädt ein zum Träumen, sie umarmt mich und ich kann mich richtig hineinkuscheln. Das ist livehaftige Magie von I Muvrini. Die Lieder machen mit den Bildern wann immer ich möchte einen schönen Haltepunkt, wenn der Alltag mal wieder schneller ist als ich selbst.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass einige der neuen Lieder ebenso Kultstatus wie so viele andere Titel erreichen werden, ohne die kein Konzert zu Ende gehen darf. Schon beim ersten Hören kristallisierte sich schnell heraus, was das Ohr wieder hören will und was sich dem Herz erschließt: Sarà und È Ghjè Cusi mit Sicherheit, Quand Hè und Ti Mandu haben das Potential dazu, die Zeit wird es weisen. Alma und Per amore sind ebenfalls echte Edelsteine, Un ti ne scurda habe ich lange nicht mehr gehört, Di und Diteli sind ebenso unverzichtbar wie natürlich A voce Rivolta. Martin an den Drums und Loic sorgen für die Wucht, die es braucht. Da bleibt niemand sitzen, jeder bewegt sich im Takt der Musik, wohin ich auch sehe, überall glückliche Gesichter und alle stehen und singen… und singen… immer weiter, den Refrain wieder und wieder… am liebsten gar nicht mehr aufhören, korsische Fahnen mit dem Mohrenkopf werden geschwungen, das gehört einfach dazu. Ein nicht enden wollendes gemeinsames Stück Korsika.

JF hat noch eine hübsche Idee ausgeheckt. Pädagogik und Didaktik stehen jetzt auf dem Programm. Stéphane und Alain sind die Übermittler, JF und Kim Altmeyer die Lehrmeister. Wir lernen korsisch. Wir singen gemeinsam. Wir. Alain und Stéphane halten die Textblätter mit den Worten und so gelingt es leicht und macht richtig Laune:

INCO RALU MONDU
DUNA MORE VONDU
TI GAN ÁNTU TUGAIA

Das „Richtig“ und „Schön“ ist erstmal nebensächlich. Diese tolle Stimmung trägt uns problemlos zu Bona Furtuna. Freude, mitmachen, gute Laune, tanzen, feiern. Das ist ein ausgelassenes Fest, ausdauernd und anhaltend beklatscht. Wo Menschen singen, lass dich ruhig nieder, denn schlechte Menschen haben keine Lieder. Musik baut Brücken, schafft Gemeinsamkeit, ein Wir-Gefühl. Deshalb ist ein Konzert mit I Muvrini immer wie ein Besuch bei Freunden. In dieser ausgelassenen Stimmung schließt sich der Kreis: Sarà ist Eröffnungs- und Schlusstitel. Eine gelungene Idee. So bedeutet das Ende immer wieder auch einen Anfang.

I Muvrini stehen für Humanität, Gemeinsamkeit, Überbrückung jeglicher Differenzen in allen Kulturen, das Aufeinander zugehen und Verstehen und Achten der Menschen in allen Ländern dieser Welt. Und das ist nicht nur ein schönes Etikett. Dieses Engagement für und mit Menschen anderer Länder zeigen sie vor Ort in der Unterstützung der Brasiliengruppe der Rheingauschule in Geisenheim, die seit vielen Jahren I Muvrini freundschaftlich verbunden ist. Diese Freundschaft füllen I Muvrini aktiv mit Leben durch gegenseitige Besuche, Briefwechsel und die Möglichkeit, für deren Anliegen Öffentlichkeit wie heute Abend hier herzustellen. In der Kirche haben die Schüler einen Informationsstand zu ihrem Thema aufgebaut. Dass sich die Musiker dort nicht nur blicken lassen, sondern auch intensiv miteinander austauschen, tanzen und gemeinsam Diu vi salve regina singen, ist so selbstverständlich, wie das Versprechen wiederzukommen.

Etwas ebenso Wichtiges wie der Gesang und die Musik sind für JF seine „Botschaften“, in denen er uns sein Denken und Handeln, seine Motivation, seine Lebensphilosophie nahe bringt. Seine Sprache ist die des Herzens und Kim ist seine Übermittlerin und Vermittlerin zwischen den Sprachwelten. Eines liegt ihm besonders am Herzen, weil Missachtung und Respektlosigkeit so demütigend und verletzend sind. Dabei wären Wertschätzung und Achtung und Dankbarkeit so wichtig – vor allem alten Menschen gegenüber. In ihrem Dorf sei das heute noch so. Er nutzt das Bild des Olivenbaumes und fragt: was ist größer, der Kern oder der Olivenbaum? Was ist wichtiger? Die Hände, die den Kern pflanzen und jeder der den Baum pflegt und sich darum kümmert ein Leben lang ist das Größte und Wichtigste. So wird etwas von Generation zu Generation weiter gegeben und die Verpflichtung des Menschen gegenüber der Natur verankert. JF widmet Quandu senterà den Schülern für deren brasilianische Freunde in ihrem fernen Land. Später erzählt er davon, was ihnen ihr Vater mit auf den Weg gegeben hat und so ihren Träumen den Weg bahnte: „fürchte dich niemals vor dem was kommt!“ Wie könnte er sich anders bedanken als mit einem Lied, È ghjè cusi. Eine melancholische, zärtliche Melodie, wächst heran zu einem hymnischen Danke an die Generation der Väter. Und wenn man derart das Herz und die Seele öffnet, darf es ruhig mit Pathos sein.

Zwei Stunden vergehen wie im Flug. Inzwischen sitzt kaum mehr einer, es ist ein großes Fest mit überschwänglicher Stimmung. Die Musik und die Stimmen schwappen hinunter ins Publikum, werden aufgenommen, weiter getragen und wogen wieder auf die Bühne zurück. Und zum Schluss wird unsere Hartnäckigkeit an Beifallslärm belohnt. Wir haben gewonnen - das letzte Konzert dieser Deutschlandtour endet mit A te corsica. JF, Alain und Stéphane, ganz puristisch drei Stimmen und sonst nix, ein würdiger, fast ein bisschen ergreifender Abschied. Tief berührt wie ich werden viele in einem glücklichen Taumel ein bisschen nach Hause schweben.

Christel Amberg-Wiegand für www.muvrini.info