Fortsetzung:

Gioia – einmal rund um Deutschland!

Ich freue mich mit den Schülern der Rheingauschule, weil I Muvrini ihnen für ihr großes Engagement im Brasilienprojekt ein Forum bieten und Öffentlichkeit herstellen. Es geht gegen die entwürdigende, lebensverachtende Praxis der Schuldsklaverei der brasilianischen Landbevölkerung. Bei I Muvrini erschöpfen sich Ideale nicht in Worthülsen, I Muvrini zeigen Flagge und nehmen sich selbst ein bisschen zurück. Inseme si pò – Gemeinsam schaffen wir es – ist ein krachendes Ausrufezeichen, Ansporn und Motto. Diese gelebte Solidarität, der tolle Erfolg des Konzertes und einmal mehr die Herzlichkeit und Wärme ihrer Freunde und des Publikums nehmen die Schüler mit in ihr Leben. Die Spendenbox war hoffentlich mindestens ebenso voll wie die Herzen aller.

Jedes Konzert fühlt sich anders an, jedes lebt auch von der Lokation, aber in erster Linie ist es das Publikum, das dieses Live zu einem Erlebnis macht. Und doch ist so ein Konzert in der Kirche auf eine besondere Art irgendwie verhalten. Die Kirche ist proppevoll; wahrlich, das Mainzer Publikum wäre es nicht, wenn… am Ende hält’s wirklich niemanden mehr auf seinem Stuhl. Ein wahrhaft gelungener Tourstart. Tschüüß, à bientôt. Drei großartige Konzerte in den Niederlanden bzw. vier Tage später stoßen wir in Köln wieder dazu. Gegen eine Kirche ist das Theater am Tanzbrunnen „normales“ Pflaster; bekanntermaßen tolles Publikum, es nimmt bereitwillig und gibt aus vollem Herzen. Hamburg, die Fabrik, ein Gebäude mit gelebter Vergangenheit und jungem Leben heute und einem Publikum wie man es sich nur wünschen kann. Die Enge der Bühne bringt alles noch dichter zusammen, diese unbändige Energie kann in diesem schmalen hohen Raum überhaupt nicht weg. Irgendwie überschlägt sich alles, Freude, Begeisterung, Emotionen und Musik – Zutaten für einen Glückscocktail besonders heftiger Art und Wirkung. Die Holzpfeiler, fürchte ich, sind kurz vorm einknicken! Jesus, was für ein Konzert! Es ist mir fest auf die Netzhaut und in jede Herzmuskelfaser eingebrannt. Berlin, die Premiere im Tipi und das Über-drüber-Konzert schlechthin. Ich sitze noch bis kurz vor Beginn mit Kribbeln im Bauch ganz oben am Mischpult, das Zelt liegt mir praktisch zu Füßen, die Spannung in der Luft ist fast greifbar und wartet nur darauf, endlich losgelassen zu werden. Was daraus wird, ist vollends unglaublich! Jetzt! Hier! Alles! Nicht weniger als Alles, nicht später als Jetzt, nirgendwo sonst wie Hier! Zeltboden eignet sich hervorragend für donnerlaute Begeisterungsbekundungen, ein wahrer Orkan bricht los. Es ist das einzige Konzert mit einer Zugabe von der Zugabe von der Zugabe. Band und Publikum lassen nichts anbrennen. Der Pegel dreht immer noch ein bisschen höher, entsprechend endlos ist das Verabschiedungsprotokoll, die Zeremonienmeister beider Seiten übertreffen sich im Glücksrausch der frühen Nacht. München: ein riesiger Raum für die klassische Musik gemacht, die Bühne wirkt fast wie ein Fremdkörper, das Publikum will erobert werden - und wird erobert! Stuttgart ist wie Köln so etwas wie Muvrini-Homeland. Der Betrieb läuft wie am Schnürchen und entsprechend locker ist die Stimmung schon im Soundcheck. Das Publikum erreicht ganz schnell Betriebstemperatur. Binnen kurzer Zeit sind Band und Publikum eins. So etwas erzeugt ungeahnte Rückkopplungen auf beiden Seiten. Nur der Gedanke an Abschied setzt mir gelegentlich kleine Nadelstiche ins Herz. Trotzdem oder erst recht: ich genieße jeden Augenblick in vollen Zügen.

Das Gefühl dieser Konzerte zu beschreiben ist fast unmöglich. Die Wahrheit von Superlativen nutzt sich schnell ab. Wie ein Dejà-vu kehrt die Magie des allerersten Konzertes immer wieder zurück. Es wird dunkel und aus den Boxen klingen fröhliche, unbeschwerte Kinderstimmen und entführen mich in eine andere Welt. Thomas, Mickey, Achim und César nehmen Kurs auf ihre Instrumente, dann kommt Alain und sein Applaus ist schon der Gradmesser für alles was kommt. Dann prescht Loïc los, die Fender zirkelt filigrane Töne in die Luft. Zwei neue, Elle a sanu und Gioia und Di quale si l’amore sind ein gelungener Auftakt und absolute Schnellglüher. Natürlich stehen auf der Setliste die Appetizer für das neue Album, dazwischen viele Goodies der Vergangenheit. Schön, dass bei vielen Stücken die gesamte Band auf der Bühne ist, da gibt’s jede Menge zu gucken.

Kim kommt mit auf die Bühne. Es ist Zeit für Worte - GFs Begrüßung versteht jeder, doch er möchte uns mehr sagen als Guten Abend und da ist es gut, dass er und Kim uns als eingespieltes Team locker und sichtlich vergnügungsreich über die französisch-korsischen Sprachhürden helfen.

Gioia – ein Fest der Freude. GFs Freude wieder in Deutschland zu sein ist spürbar echt. Mitgebracht hat er unkaufbare Geschenke – Musik für die Seele, Musik fürs Herz. Jeden, der sie annimmt, macht sie unschätzbar reich. Allabendlich wünschen sich einige Hundert hungrige Menschen nichts Anderes. GF malt seine Wünsche, Träume, aber auch seine Motivation in kurze bildhafte Geschichten. Die korsische Welt wie sie mehr und mehr entschwindet und von der er so Vieles bewahren möchte. Familie, Keim und Wurzel einer Gesellschaft, die miteinander handelt und nicht gegeneinander kämpft. Achtung und Respekt vor der Kultur und Sprache als vielfältige Identität, Geben und Nehmen, miteinander teilen, etwas weitergeben, ermutigen. GF ist auf charmante Art beharrlich. Je mehr, desto unmöglich, sich dieser leidenschaftlichen Energie und seiner Ausstrahlung zu entziehen.

In jeder Stadt sorgen seine Deutschkenntnisse für große Heiterkeit vor und auf der Bühne. Er lernte tapfer: Gummistiefel, Staubsauger, Bügeleisen, Tschüß (mit Ü!), für Alain und Stéphane bleibe es „Schuss“, Jäger halt, lacht er. Er liebt deutsches Brot und lernt in jeder Stadt ein anderes Wort für petit pain. Er, Korse, ist Worte-Sammler, der gemeine Franzose sei dies eher weniger. Lachender Applaus. GF spricht über den ökologischen Irrsinn, der es möglich macht, spanische Tomaten nach Holland und umgekehrt zu karren, erzählt von Saint-Exupéry, der Kindern mit gebastelten Papierfliegern seinen Traum mit-teilen und wenigstens im Kleinen nach- und mit-erleben ließ, bevor er seinen letzten Flug von Korsika aus startete. Die Rose als Sinnbild für das was man an Schönem, Weltvollem teilen, achten und behüten soll. Dagegen der Mensch als Gärtner, der Ausgrenzung, Angst, Demütigung und Hass säht.

Er erzählt von Vincent, der gerade 101 Jahre alt wurde und so etwas wie ein Ersatzvater ist. Es mache ihn traurig, dass es nur noch so wenige Gärten gäbe, so wenige Hände Bäume pflanzen und pflegen, die korsische Sprache immer seltener zu hören sei. Und doch – er sei glücklich, wenn andere es sind und ermutig alle, ihren Weg zu gehen. Jeden Abend ist er unter uns. Dass Musik etwas mehr Seele in die Welt bringen möge, das ist der Traum. Denn Sein ist so unendlich viel mehr, so viel wertvoller als Haben.

Eine gelungene Überleitung zu, Agnus Dei und Terzetti, Höhepunkt und Magma eines jeden Konzertes. Sie sind völlige Hingabe, Anspannung und Leichtigkeit, das Fließen der Stimmen einfach aus sich heraus. Drei Stimmen verschmelzen zu einer und es überfällt mich jeden Abend aufs Neue und manchmal fließen Tränen ungefragt. Einfach Sein.

„Danke, dass du mich träumen lässt, Vater. Danke, dass du meine Träume wachsen lässt“, davon erzählt Canzone pé Sarah. Es beginnt mit einer kleinen Melodie unter Achims Fingern… Alain und Mickey stecken schon wieder lachend die Köpfe zusammen und haben jede Menge Spaß.

Quandu sentarà ist Laurences erster Auftritt. Sie spielt so beseelt, so bewegend, dass es eine Augen- und Ohrenweide ist ihr zuzusehen. Ich mag es, weil es geradezu wie aus der Erde zu kommen scheint. Laurences musikalischer Flirt und die ansteckende Freude wird hundertfach belohnt. Alma ist wie aus großer Höhe fallend aufgefangen werden. Etwas, das einen Kern umschließt. Einmal sehe ich Mickey hinter dem Boxenturm applaudieren und wie ungläubig den Kopf schütteln. Mit ihm hat der Klang von I Muvrini eine neue Farbe bekommen. Mit dem Klang der akustischen Gitarren haucht er den „alten“ Songs neues Leben ein, die neuen Lieder tragen unverkennbar ein MM-Label. Was für ein Glück muss es sein, sein Ich so widerspiegeln zu dürfen. Er bringt GFs Poesie zum Klingen, seine Musik ist ein Gedicht, seine Töne berührende Lyrik. Einfach Sein.

Welch ein Kontrast dazu ist Di du cu di tu, da knarrt Vincents Stimme von gelebtem Leben und ist doch voller Kraft. Der Song ist ganz modern gestrickt, fast gerappt. Im Mittelteil steckt wieder ein toller Gitarrenpart – flick-flack über den Saiten - und ich verdamme mal wieder den Sitz unter mir. Wie viel intensiver ist Musik, wenn man sich mit ihr bewegen kann! Dann Ùn ti ne scurdà, es wird schon mit den ersten Tönen der Mandoline mit stürmischem Applaus begrüßt. Es ist diese treibende Kraft aus Rhythmus und Melodie, Rufen und Antworten, Geben und Nehmen, das es jeden Abend zu einer ausgelassenen Fete werden lässt. Lautspiele gehen hin und her, wir alle zelebrieren und kosten es aus bis irgendwann „die Luft ausgeht“. Thomas filzt wie ein Uhrwerk, erst ist es seine Spielwiese, dann wird sie GFs und dann ist sie Césars und unsere Fun-Meile – ein Spaßvogel und Joker der Vokalartistik mit einer tollen Stimme. Das Spiel wird mehr und mehr eine fröhliche Herausforderung an unser Echo, bis es in einem riesigen Applaus mündet. In Berlin gibt es jetzt eine Pause. Das Serviceteam macht flink und freundlich seinen Job, die Spannung, der Kitzel, das Prickeln wurden beileibe nicht abserviert.

Als Huldigung an alles Weibliche der Welt und zum Trost haben I Muvrini eines ihrer schönsten Herzstücke neu arrangiert – Di. Achim, Thomas, GF und Mickey bauen ein Filigranstück aus hauchdünnem Glas. Atem-raubend. Jetzt bitte die Welt anhalten, einen Augenblick nur, still genießen. Einfach Sein.

Bonafortuna holt uns dann mit seinen flotten Rhythmus wieder in die Wirklichkeit zurück, die Mandoline macht fast ein bisschen Chakachak, klingt sehr lebendig, ist voller Energie, ist ansteckende Lebensfreude. Viel Glück. Die gesamte Band präsentiert sich in ungewohntem Bühnenbild: Achim am Akkordeon, Thomas nimmt auf dem Klangmöbel Platz, Laurence, Loïc… grenzenlose Ausgelassenheit und überschwappende Freude. Jetzt heißt es „Butter bei die Fische“. Alles Mitsingen bisher war nur Übung, jetzt sind wir alle noch mal gefordert. Gaia – Bis ins Herz der Welt, aus Liebe zu dir, singe ich für dich, Gaia. Wir singen unter fachkundiger Leitung von Maestro Loïc, der uns hunderte Choristen jeden Abend als clowniger Chorleiter mit Stéphane und Alain im gespielten Chaos der Textblätter führt. Gemeinsam miteinander zu singen ist eines der ganz großen Geschenke, die wir GF machen können. Da tiriliert noch die kleine Flöte, die Band staubt auf und das kleine Lied wird plötzlich gaaanz groß. Klasse!

Ab jetzt ist so etwas wie abrocken angesagt. Quand hè mausert sich zum richtigen Kracher, Pudè legt nach, Loïc schreitet gemessenen Schrittes über die Bühne und liefert sich mit Mickey an der Fender ein breitbeinig eingesprungenes Battle und dann - spätestens jetzt brechen mit A voce Rivolta sämtliche Dämme. Mein Gott, was haben sie gesemmelt! Unfassbar viel Dampf, Singen als Überdruckventil. Noch noch noch und nöcher… lachende Blicke, GFs strahlendes Gesicht und große Gesten, rechts links, immer wieder wir und die Band, hin und her, niemand wagt zu schwächeln oder den Schlussakkord zu setzen. Erster Schlusspunkt. Amsterdam braucht diese Pause. Als Achim die ersten Töne aus dem Akkordeon schickt, geht ein Raunen durchs Publikum, Applaus. GF lebt es, wie ich es noch nie von ihm gesehen habe. Die Jungs (ich schließe Laurence immer mit ein) tun ihr übriges, wenn sie ihn in Sphären heben so überdrüber von allem, es dann mit einem Mal für einen Moment nur zusammenbrechen lassen, um ihn dann mit steigerndem Tempo und mit Wucht zum Ende zu bringen. Uff - I Muvrini lassen mich angenehm dünnhäutig werden. Ihre Musik treibt mir wohlige Schauer durch den Körper und Lieder wie Di und Tù mi manchi wühlen mich auf. Fate ist in der Pianoversion noch viel stärker. Und wenn Alain A te corsica beginnt, seine, GFs und Stéphans Stimme sich umspielen, Würde und Stolz und Liebe zu ihrem Land so klingen, geh ich vollends in die Knie. Einfach Sein.

Es ist bestimmt nicht die verleitete Neugier nach Ethno-Weltmusik-Trallala-Exotik, sondern die Sehnsucht nach einfachen, klaren Dingen, vielleicht sogar Vorbildern, und „schöner“ Musik. Hunger nach Ehrlichkeit. Und es wäre alles Nichts ohne diese unbedingt notwendige, lebendige Verbindung zwischen unseren Herzen. Und das ist nicht GFs Präsentierteller, sondern das Innenleben aller. I Muvrini sind ein Gesamtkunstwerk aus Tradition und Neuem, ihre Musik baut Brücken zwischen Gestern und Heute, vielleicht auch morgen. Manchmal hätte ich gern ein kleines bisschen mehr Bums, etwas mehr Reibung oder ein bisschen Schmutz in den Saiten. Gleichwohl funktionieren die neuen Songs live verdammt gut. Sie haben Kracherqualitäten und sie haben Feuer, Seele und Kraft. Ich wünsche mir, dass viel von der Freude und dieser Leidenschaft des Live-Erlebnisses auf Gioia zu hören sein wird. Das Kopfkino schaltet sich dann von selbst ein.

Christel Amberg-Wiegand für www.muvrini.info