17. September 2008 - Pippo Pollina & Konstantin Wecker nin Altenkirchen

Von Zelt zu Zelt
von Christel Amberg-Wiegand

Es ergab sich die glückliche Fügung, dass Konstantin Wecker und Pippo Pollina wieder Lust verspürten, die Bühnen ihrer Reviere gemeinsam zu bespielen. Sie fanden für ein paar erlesene Gelegenheiten zueinander, scharten vier exzellente Musiker um sich, die mit den Liedern bestens umzugehen wissen, weil sie ihnen Fundament geben und viel viel Raum und Zeit für Interpretation, Stimme und diesen einmaligen, besonderen Moment. So ein Ereignis bringt viele Menschen in Wallung. Jedenfalls scheuen Pippos und Konstantins Fans keine Wege, ohnedies ist die Schnittmenge der gemeinsamen Anhänger groß und heute Abend werden wieder viele Zuhörer mit ihren Liedern im Herzen und in den Köpfen nach Hause gehen.

Ein letztes Konzert, heißt es, hat so seine eigenen Gesetze, so wie das erste dieser gemeinsamen Reise auch seine hatte. Ich wünsche mir, dass sie sich heute Abend vor lauter Freude auf die kommende wieder erlangte „Freiheit“, meinetwegen auch gemischt mit kleiner Wehmut über das beschlossene Ende, einem wunderbaren Spielrausch begeben! Das tun sie dann auch. Sie spielen wie entfesselt, losgelöst, kraftstrotzend und mit völliger Hingabe. Da entfaltet sich eine unglaubliche Power schon im ersten Teil des Programms, das Pippo eröffnet, das Staffelholz dann an Konstantin weitergibt und im zweiten Teil erst Recht in den gemeinsamen Stücken. Die steckt schon in jeder Note, und sie ist zu sehen in ihren Gesichtern, in den vielen Umarmungen, den Blicken, den kleinen Gesten. Oft bemüht und auch heute wieder wahr, wie wahr: „Was für eine Nacht“! Und als Konstantin später am Schluss von „Heut schau’n die Madln wie Äpfel aus“ Goethe zitiert, spricht er mir aus der Seele: „Alles geben die Götter, die unendlichen / Ihren Lieblingen ganz / Alle Freuden, die unendlichen / Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“ Heute ist mir so.

Pippo und Konstantin spannen einen emotionsgeladenen Bogen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der eine wagt schon einen Rückblick, der andere steht im Jetzt und schaut nach Vorn. Mit dieser hochkarätigen Musikertruppe lassen sie sich nicht lumpen, schöpfen aus dem Vollen ihrer Musiktruhen und machen sich gemeinsam auf zu neuen Ufern, wenn sie des jeweils anderen Lieder ihre Seele schenken und sich selbst die Einmaligkeit des Augenblicks, der für die Ewigkeit gemacht ist. Unsere Anwesenheit ist seltener Natur gewesen, genauer gesagt, der Anfang und das Ende des Spannungsbogens vom Ulmer Zelt im Juni zum Spiegelzelt in Altenkirchen als erste und letzte Adresse als Spielplatz der illustren Musikerversammlung. 

Wenn Abschied so klingt, dann will ich nur noch Abschiede. Das unbändige Glücksgefühl, das bleibt, heilt den Abschiedsschmerz. Die Wiedersehensfreude damals ließ noch vieles offen, wie wenn sich zwei treffen, die sich erst wieder finden müssen oder aneinander gewöhnen. Das ist ihnen beileibe gelungen. Das Resultat ist eine außergewöhnliche Sternstunde im proppevollen Spiegelzelt. Das letzte Konzert dieses Kultursommers in Altenkirchen ist ein Paukenschlag, ein grandioses, würdiges Abschiedsfest für Band, Festival und vielleicht auch den Sommer. Ein großes Kompliment an Helmut Nöllgen und sein Team! Es ist ihm wieder einmal gelungen, ein abwechslungsreiches Programm auf die Bühne zu bringen und alle waren herzliche Gastgeber. Wir kommen gerne wieder. Und noch etwas durchaus nicht Selbstverständliches: ich habe selten eine so exzellente, erstklassige Akustik erlebt. Der Sound war wirklich vom Feinsten, jedes Instrument, ob solo oder wenn ordentlich gerockt wurde, war gut abgestimmt. Kein böser Klangbrei, der sich in die Ohren ergoss, zu keiner Zeit. Pippos und Konstantins Stimmen wurden sehr feinfühlig aufeinander abgestimmt, warm und voll, so dass ihre charakteristischen Feinheiten voll und ganz zur Geltung kommen konnten. Ein echter Hörgenuss.

Pippo eilt beinahe schnurstracks unter stürmischem Begrüßungsapplaus zum Flügel, große Empfangsdefilees sind sein Sache nicht. Camminando ancora - und sofort beginnt diese unsagbar schön nervenkitzelige Verbindung dieser besonderen Musikaromen zu wirken. Diese warme, aufregende Stimme mobilisiert ganze Armeen von Ameisen, die auf der Haut zu tanzen scheinen. Dann kommt Jean-Pierre von Dach hinzu und ergießt ein ungeahntes Klangvolumen über uns. Konstantin ulkt später, es sähe gelegentlich aus, als ob er schliefe. Ich unterstelle ihm eher einen Trancezustand. Kein Wunder, er fliegt förmlich davon, hoch, hoch, da bleibt nur mit offenen Ohren Staunen. In-saiter, denn unter seinen Händen wird Poesie und Gefühl Musik. Die erste halbe Stunde gehört Pippos Liedern und wenn er von den Geschichten dahinter erzählt, versteht man ein wenig mehr von der Sprache seiner Lieder. Zwar immer zu wenig, denn Lieder wie Pristina und Centopassi verdienen es, verstanden zu werden - wie auch alle anderen. Doch die Musik, der Hörgenuss, baut vielleicht für viele die Brücke zu den Texten auf den CDs. Pippo empfindet wohl ähnlich, die Antworten auf seine Frage nach den Italienischkenntnissen sind immer gleich, wenig bis keine. Erstmal ist die Musik wichtig. Und - wie sie rüberkommt ist das Wichtigste. Es gibt nur wenige Liedermacher, Poeten, Sänger, Geschichtenerzähler, die ihre innere Stärke so selbstbewusst, charismatisch und über alle Maßen strahlend mit Überzeugung nach außen tragen. Das Erlebnis Bühne ist durch nichts zu ersetzen. Da sind er und Konstantin ganz nah beieinander. Das Kribbeln im Bauch kriegt mehr und mehr Nahrung. Meine Ohren folgen gerade Jean-Pierres Gitarrenwolken, als meine Augen gar nicht mitbekommen, dass Pippo sich fast unbemerkt aus der Szene schleicht und die Bühne frei gibt für Konstantin.

Erste Brandung von Applaus. Sein gut dreißigminütiger Schnelldurchlauf seiner Lieder ist auch ein Schnelldurchlauf seiner Biografie. Konstantin liefert reichlich Stichworte oder Erinnerungsfetzen beim durchpreschen seiner jetzt mehr als 60 Lebensjahre. Durchlebt, durchliebt, durchlitten, oft von Vielem zu viel. Jede Menge Stoff für Lieder, die unter die Haut gehen und das Herz jubeln oder schmerzen lassen. Es hat ihn hingerissen zu einer Laudatio auf seine Fans ganz nach seiner Art. Einem Puzzle von Textzeilen „Gut, euch an meiner Seite zu wissen…“ ist keine Floskel… Die Bühne verzeiht nichts, da musst du alles geben und ehrlich sein, sonst wirst du geteert und gefedert. Das muss er nicht fürchten und es gibt noch lange keinen Grund aufzuhören, denn immer noch überkommen ihn Lieder, sind in ihm, die ihm einfach passieren, oft genug zum eigenen Staunen.

Das Leben und die Politik geben Steilvorlagen zuhauf. Da singt er jedem aus dem Herzen, wenn er aufrüttelt, anprangert, stichelt und laut seine Stimme erhebt. Und wie sehr rührt er das Herz, wenn er von Liebe singt, jenseits von Kitsch und Oberflächlichkeit. Es ist diese zärtliche und doch kraftvolle Poesie, die unter die Haut geht und lange nicht aus dem Kopf. Dazu diese unverwechselbare Stimme, die rei(f)cher und älter geworden ist und die spürbar schiere Lust, sich dem Flügel  wie selbstvergessen anzuvertrauen. Mit Jo Barnikel hat er weit mehr als einen Partner, quasi ein zweites Ich, mit dem er sich blind durch sein Repertoire spielen kann. Da bleibt nichts stehen, nichts bleibt unerwidert. Die Antennen sind exakt aufeinander ausgerichtet, die kleinste Andeutung genügt für brillante, manchmal witzige Improvisationen. Dazu diese Band, die alles irgendwie im Schach und zusammen hält, in der jeder alles und mehr gibt damit es eins wird. Lenz Retzer pulst einen trockenen Bass oder streichelt das Cello wie wund und schwermütig. Alexander Balayew fuschelt zart über die Felle oder semmelt wie der Teufel, dass nur so die Fetzen fliegen. Die Lieder sind nicht neu, aber neu erfunden. Mit respektvoller Hochachtung aber völlig unerschrocken entfernen sie den Klassikern die Edelpatina. Das steht den Liedern extrem gut und wirkt keine Sekunde aufgesetzt, keinen Moment übertrieben, nie unangemessen, weil vom Original entfernt. Über die Grenzen kann auch das bedeuten. Das sollte Konstantin öfters tun. So gefällt er mir richtig gut. Die Vergangenheit brachte jetzt genug gereifte Pianoklänge, es ist mal wieder Zeit für jugendlichen Ansturm aufs eigene Heiligtum.

Denn Genug ist (wirklich!) nicht genug. Und es ist auch nicht Frieden im Land. Ein neues Rhythmusgewand und ein Schuss Genialität sorgen für Überraschung, spontane Einfälle wandern von hüben nach drüben und ein Lächeln hinterher. Und egal, ob Börsianer tanzen oder Spekulationsblasen platzen, Konstantin tanzt aus purer gehässiger Freude, wenn Jo frech und bösewichtig den Jahrmarkt eröffnet, den Gierigen zur Kirmes aufspielt. Das gibt es schon mal Szenenapplaus. Ein unerwarteter Ausflug ins aktuelle, volkstümliche Weckergefilde steht an. Unter das St.Adelheim-Lied packen sie einen mehrheitsfähigen Reggae, denn Knastkompetenz allein ist kein Alibi. Unter Jos Flügelhorn fällt es in sich zusammen, da zählt Alex ein zu Lang mi ned o, es bleibt noch bajuwarisch und grundbassig, dieses raunzen und wüten, so brassig wie echt. Die Anmache ins Publikum kommt in vielfachem Echo zurück. Ich sehe viele auf ihren Plätzen mitrocken, erst recht bei Wieder dahoam in diesem lockeren Groove dahingegossen. So lass ich mir „Heimatlieder“ gefallen. Eine herzlich-urige Bestandsaufnahme mit leicht heimatkrankem Lebensgefühl und etwas Sentimentalität kredenzt wie nur der Wecker es kann. Unter Jean-Pierres Solo taucht Pippo wieder auf und mischt sich ein – sie bewegen sich aufeinander zu - ein erstes Appetithäppchen auf später und Cliffhanger in die Pause.

Jetzt erfüllen sich die großen Erwartungen. Jetzt endlich wird es gemeinsam! „… sang sich ohne zu zögern in die Seele des Volkes hinein…“ ist Programm. Hier zeigt sich die Seelenverwandtschaft. Sie singen, weil sie Lieder haben, die nicht unerhört bleiben dürfen. Konstantin und Pippo spielen sich zu, machen sich die Sprache des anderen zur eigenen, gehen für kurze Zeit eine ganz intensive Verbindung ein und die Band liefert die musikalische Umarmung.

Der Bass spielt eine kleine Melodie, sie klingt nach Vergangenheit und ist Gegenwart und darüber hinaus. Dann kommt’s richtig voll mit Strom und ohne wenn und aber – Milchstraßenlang, unglaublich was für eine Power sie da hineintun, so ungewohnt so richtig! Es darf mehr sein: Quanto emozioni diesmal – Was für ein Gefühl… tiefer als das Meer. Wenn Rock’n Roller so etwas Schönes an Lyrik aufmischen, wirds garantiert ein Herzschrittmacher. Sie treiben sich an zu immer neuen Höhepunkten.

Dieses Gefühl, endlich wieder zu leben, aufzutanken, sich spüren, die Luft schmecken, … wenn es so etwas wie ein Gefühlsgedächtnis gibt, dann ist es hier hörbar. Jo lässt’s schon mal anklingen, doch zunächst fährt die Band ihren hoch verdienten Applaus ein, jeder für sich mit einem fetten Solo fürs Gedächtnis, schließlich soll jeder wissen und nicht vergessen, wer diese Unbeschwertheit und pure Lebensfreude klingen lässt.

Es gibt Lieder, die gehören allen. Wie Amsterdam. Es ist einer der Höhepunkte des Abends, wie Konstantin in den deutschen und Pippo drüben am Flügel den italienischen Text in ihrer Interpretation etwas Düsteres, Raues, Schmutziges, Derbes hinein geben. Sie packen in diese aufgewühlte Stimmung von prallem gelebtem Leben in Momenten des kurzen Glücks, Armut und Abschied unendlich viel Seele hinein. Das Publikum ist direkt ergriffen und spart wahrlich nicht mit Applaus.

Und dann dieses unsagbar schmerzlich, leise fehlendes, verzweifeltes Stirb mir ned weg. Das Cello ist ein verwundetes du und ich. Die ganze Ohnmacht, Trauer, Verzweiflung klingt in Pippos und Konstantins Stimme, einmal mehr trifft mich Jean-Pierre bis ins Mark. Es ist mucksmäuschenstill. Diese beklemmende Spannung löst sich dann in einem furiosen Bella Ciao. Lautstark ist das ganze Zelt dabei. Meinungsbildung in seiner schönsten Form ist das. Zum großen Finale sind alle Systeme hochgefahren. Insieme – eigentlich DAS Lied aus Pippos Musikwelt mit Linard Bardill, doch hier ist es nicht weniger berechtigt in dieser mächtig aufgemischten gerockten Version. Die Band feiert sich mit ausgelassenen Soli, feiert diesen Abend, brennt sich auf meine Netzhaut und legt Verstand und Vernunft lahm – es gibt nur noch XXXXL-Freude. Selbst Konstantin stellt erstaunt fest „So gut wie heut waren wir noch nie“, und er weiß nun wirklich, wie es sich anfühlt, wissentlich gut zu sein, die Rückkopplung aus dem Publikum zu spüren und damit förmlich abzuheben. Davon wissen beide ein Lied zu singen – Liebespaare, sagt er, haben ein gemeinsames Lied und ihres ist zweifellos Questa Nova realta, leidenschaftlich, prall durchgepowert, eine Orgie der Spiellust. Unter endlosem Füße trampeln und mit strahlenden Gesichtern fällt der erste Vorhang. Nur ganz kurz, da ist noch soviel Hunger, noch soviel Hitze, nur, wohin damit? Pippo gibt uns die erste Möglichkeit, das Fieber zu senken, doch es ist ein Spiel mit dem Feuer. Vielleicht ist die Geschichte von Il Pianista di Montevideo ein gutes Stück seine eigene. Jedenfalls schlüpft er in dieses Stück Musik wie in eine zweite Haut während Jo es sanft auf der Trompete davonträgt… unschätzbar wertvolle kleine Momente eines Glücksrausch. Wieder ein Abschied auf Raten. Noch immer ist da heiße Glut, die angefacht zum Feuer wird, es braucht nur etwas Luft. Und es fehlt noch so etwas wie ein Abschluss, ein Punkt am Ende des Satzes. Pippo setzt ihn und gibt ihm noch mehr Zunder, als er ohnehin schon in sich hat: Der ganze Kerl ist in Aufruhr, seine Stimme, sein Körper, seine Hände, seine Worte sind Sag nein! Grida no! Was jetzt folgt, heißt nicht nur Anarchie, es hört sich auch so an: das Zelt bebt, hebt beinahe aus den Angeln. Ende. Ende? Einige ziehen es vor zu gehen. Unbegreiflich. Die beiden über-Grenzen-gänger und ihre Band beschließen den Abend mit einem besonderen Stück Herzblut, einem Wunsch nach Lebensgefühl, dessen es sich lohnt anzunähern, und es fühlt sich ein bisschen so an, wie wenn kleine Kinder das zu Bett gehen hinauszögern, noch so viel wollen…. Pippo setzt einen innig beseelten Schlusspunkt, öffnet sich noch mal ganz dem Schlendern, flüchtig, kaum zu fassen, Konstantin folgt ihm nach, diesem noch fernem Ziel entgegen… wenn Abschiede so klingen, dann tun sie nicht weh, dann sind sie bloß ein kleiner Stich im Herzen, als kleiner Schmerz spürbar, der aber keine Macht hat, das Gefühl und das Glück des Abends zu zerstören.

Christel Amberg-Wiegand für www.erlebtemusik.de

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