29. November 2006, Bietigheim Kunterbunt

Wohnzimmer Kunterbunt

Wohin er seine Lieder und Geschichten auch mitbringt, Pippos Bühnen sind Wohnzimmer. Im Laufe dieses Welt-zu-Gast-bei-Freunden-Jahres kommt Pippo nach sechs Jahren endlich einmal wieder in sein Wohnzimmer Kunterbunt und bleibt sogar zwei Abende!

Ohne viel Aufhebens bahnt er sich seinen Weg durch die Stuhlreihen auf die Bühne, nimmt an den Tasten Platz und beginnt zu spielen. Mit ruhiger, weicher Stimme zieht er mit Banneri sein Publikum vom ersten Moment an in seinen Bann. Diese Präsenz, diese Ausstrahlung seiner Lieder, allein seine Stimme und wie er die Nähe zu seinem Publikum auf seine humorvolle, herzlich erfrischende Art italienisch-schweizerisch plaudernd sucht und findet, berührt und fasziniert mich immer wieder.

Noch mehr Raconti e canzoni von Pippo und Enzo! Geschichten und Lieder nennen die beiden ihr Programm. Dabei sind die Lieder doch auch Geschichten, nur in einer anderen Sprache. Lieder-Macher haben die besondere Gabe, vom Leben und Erlebten zu erzählen auf zwei Ebenen: in Worten und mit Noten. Ich verstehe Pippos Worte nicht, aber seine Sprache schon Und bin manchmal ganz beschämt, wie einfach und leicht es zu sein scheint, das geschützte verborgene Ich zu treffen. Musik hat auch eine Ebene, die sich ohne Worte verständigen kann, ans Herz geht und dann sowieso nicht mehr aus dem Kopf.

Enzo schmuggelt sich kurz darauf auf die Bühne, greift zur Gitarre und zieht lange Töne wie goldfarbenes Abendlicht in Marrakesh. Alles Temperament rausgenommen und gegen Gefühl, Sehnsucht, Liebe eingetauscht. Danke, Pippo, hast du heimlich meine Wunschliste gelesen? Bitte, ich möchte es am liebsten gleich noch mal hören!! In der Vorfreude eines solchen Abends kann der Tag sein wie er will, hier spätestens löst sich alles auf. Pippo, deine Lieder sind wie ein Gesund- und Jungbrunnen. Wo nimmst du nur die Energie her? Ist deine Musik dein eigenes Perpetuum mobile?

Pippo ist ja unglaublich fleißig, eigentlich ständig unterwegs, mit Band oder wie heute Abend mit Enzo-ich-entdecke-jeden-Abend-neu-Sutera. Er ist so ein Gitarrist, der sich in jeden Song hineinfühlen kann, rockig knackig oder in Sternen verträumt, ein Meister der sphärischen Klanggebilde, einer der begleitet und aus dem Stand über sich hinauswachsen kann. Einfühlsam, feinfühlig, reduziert auf den Ursprungsgedanken vielleicht, Enzo liefert manchmal eigenwillige, nie aufdringliche Klangspielereien, wie ein musikalischer Zwilling, der schon bevor der andere es weiß, die richtigen Noten erkennt. Spielend verwischt er die Grenzen zwischen allen möglichen Stilen. Pippos Musik bereichert sich an Tango, Lied, Folk, Rock und Jazz und daraus entsteht sein ganz typisches Klangbild. Enzo spielt nie für sich allein, er sucht immer die Verbindung. Chiaramonte Gulfi ist sein Fest, Terra sein Sonnenaufgang. Wenn die beiden Gas geben, kann man ahnen, wie sich die Lieder mit der Band entwickeln. Heute mag ich sie genau so und nicht anders – einfach, pur, melancholisch, romantisch, alle sind Herzlieder, von Herzen, für Herzen. Sommerlieder, Herbstlieder, Enzo mit seinem fulminanten Solo, Pippo und das Tamburin, alles das ist perfekte musikalische Haute Couture made by Pollina/Sutera und garantiert nicht Musik von der Stange!

Pippos Lieder sind eine einzigartige Verbindung seiner Musikalität und Poesie. Und sie sind ein wunderbarer Gegensatz zum hektischen, lauten, quirligen Alltag. Ruhig, ausgeglichen, unaufgeregt. Überschäumend - aber anders. Spritzig, temperamentvoll, laut - aber anders. Wie immer wechselt Pippo zwischen Gitarre und seinem elektronischen Piano, das heute sehr angenehm auf ihn abgestimmt ist.

Aus „Camminando“ liest Pippo ein kleines Puzzle seiner Biografie. Von seinen Wurzeln, von seinen musikalischen Anfängen, von einer unbeschwerten, unbekümmerten Zeit, in der er sich nur selbst verpflichtet fühlte und den gesellschaftlichen Zwängen bald den Rücken kehrte, um für sich die Welt zu entdecken. Heute sind Pippos Wurzeln überall auf der Welt und er steht da wie ein Baum, der blüht und gleichzeitig Früchte trägt.

Einige Geschichten hinter den Liedern kenne ich bereits, andere sind neu. Ich stelle mir den Freigeist Pippo bei seinem ersten Gastspiel in der DDR vor, wo er die beiden Seiten der deutschen Lande kennen lernte und alltäglich unter dem strengen Auge dieser wachsamen walkürenhaften Heike zunächst wie gefesselt war und Abends dann im Palast der Republik trotz fremder Sprache eines „verbotenen Landes“ auf viele offene Ohren traf. Friedenslieder haben damals wie heute die Welt nicht verändert, aber vielleicht in jedem einzelnen etwas bewegt. Heute Abend ist es La Luna e I Falò. Pippo hört anderen beim Leben zu und in sich hinein, steht offenen Herzens und mit offenen Augen der Welt aufmerksam und auch kritisch gegenüber. Das ist der Ursprung seiner Lieder. Die Koordinaten für Liedermacher wie ihn sind immer Ton, Text, Themen. Dem Leben abgeguckt. Ich könnte ihm stundenlang zuhören wie er aus kleinen Histörchen von Gestern den Faden zu einem Lied von Heute weiterspinnt.

Pippo ist ein Meister der Improvisation und immer gut für eine Überraschung. Mit diesem Programm hat er sich dafür natürlich uneingeschränkte Freiheit geschaffen. Wie aus dem Zauberhut erfüllt er Publikumswünsche. Ein Lied holt er von so weit aus der Ferne wieder herbei, dass Enzo noch nie Gelegenheit hatte es kennen zu lernen. Pippo spickt den Text zur Sicherheit aus seinem eigenen Werkbuch. Enzos „Worte“ stehen nirgendwo, er findet sie traumwandlerisch sicher irgendwo dazwischen. Dann eine echte Herausforderung auch für das Sprachgenie Pippo: von der CD mag ich’s am liebsten ordentlich laut, doch auch hier kann ich sie direkt fühlen, diese besondere Kraft des Textes Plötzlich von Linard Bardill, der auf die ewig gültigen zweifelnden Fragen die ebenso ewig gültige überzeugende Antwort weiß. Es gibt keine Entschuldigung mehr, die Wunschtitellieferantin hat auch ein Textblatt parat und so meistert Pippo bravourös die sprachlichen Klippen des Schwyzerdütsch. Eine kleine Sternstunde, das Herz geht mir auf, ich mag es kaum glauben!! Dafür könnt’ ich ihn knuddeln, jetzt und hier.

Pippos Herz ist dem französischen Chanson und der Musik und der Kultur Lateinamerikas besonders nahe und deshalb fließt dies auch immer wieder in seine Lieder ein, Il Giorno del Falco ist eines dieser ganz Besonderen! Und heute Abend ist die Gelegenheit, mit einer Sängerin auf der Bühne zu stehen, die ihn und seine Musik schätzt und genau heute ein Konzert miterleben mochte, bevor sie am nächsten Tag abreisen würde. Pippo ist die pure Freude, als er die Brasilianerin Marili Machadó ankündigt. Musik umspannt die Welt und verbindet so die entferntesten Welten. Die Sympathie füreinander und ihr musikalisches Einverständnis bestätigt sich in kurzer Absprache, ob Gitarre oder Piano, das letztlich den Vorzug erhält. Ein Fest für die Musik und für die Freundschaft. Marili Machadó erfüllt jede Note mit soviel Herzblut und Lebendigkeit, ihre und Pippos strahlende Augen sprühen nur so vor Freude und vor Glück. Unsere Herzen fliegen den beiden zu mit einem überwältigenden Applaus. Zu Ende ist das Konzert damit zum Glück noch lange nicht, wir bekommen sogar ein neues Stück zu hören und Enzo lebt sich noch einmal in Sotto la Routa aus, seine Spielwiese, bevor er die Bühne wieder Pippo allein überlässt. Er ist wie so oft zugabenfleißig, als wolle er das letzte Lied noch ein bisschen warten lassen.

Als sich nach fast drei Stunden die letzten Töne in Luft auflösen, möchte ich am liebsten im Halbdunkel sitzen bleiben und noch eine Weile Löcher in die Luft träumen. Draußen wartet nur die Nebelautobahn.

Das Kunterbunt ist wirklich ein kleines feines Wohnzimmer. Das hätte ich hinter der Leuchtreklame Sportlerheim wirklich nicht vermutet. Kompliment für die Kunterbunt-Crew, den freundlichen flotten Service, der während des Konzertes Pause hat. Soviel Wertschätzung, Einverständnis oder Entgegenkommen sind selten genug und verdienen das Prädikat „Besonders wertvoll“.

Christel Amberg-Wiegand für www.erlebtemusik.de

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