06. März 2006, Haus Felsenkeller Altenkirchen

Zurück zu den Wurzeln…

… könnte man den Abend überschreiben. 20 Jahre Felsenkeller und ebenso 20 Jahre ist Pippo unterwegs mit seinen Liedern und Geschichten. Anlass für das Felsenkeller-Team, beide Jubiläen miteinander zu verknüpfen. Pippo lässt uns in der gemütlichen Gaststube den neuerlichen Wintereinbruch vergessen. Etwa 100 Stühle sind aufgestellt. Davor ein wenig Platz für zwei Mikros, zwei Stühle, die Instrumente und ein bisschen Technik drumrum. Wie in einem Wohnzimmer. Ein kuscheliger schöner Rahmen für ein kleines intimes Konzert.

Pippo, wie viele Gesichter hast du? Heute lerne ich ein anderes, neues kennen. Vielleicht dein ursprünglichstes? Als ich dir im vergangenen Jahr mit deiner Band begegnete, war ich über alle Maßen beeindruckt. Heute bist du solo hier. Nicht ganz, Enzo Sutera ist für diese Tour als „special guest“ angekündigt, in der üblichen Leseart solcher Ankündigungen eine kleine Untertreibung wie mir scheint, Enzo in Wirklichkeit guter Freund und Wegbegleiter schon seit vielen Jahren. „Keiner, der mich so gut versteht“, sagtest du über ihn, das spürt man, wenn man euch beide auf der Bühne sieht!

Pippo kommt zunächst allein „auf die Bühne“, macht gar nicht viel Aufhebens, bahnt sich seinen Weg durch die Stuhlreihen und nimmt auf dem kleinen Hocker vor dem „akustischen Piano“ (ein merkwürdiger Begriff im Tourflyer) Platz und beginnt mit Banneri und schwelgt in einem laaaangen Intro hinüber zu Lèo. WAS für ein Opener! Es zieht das Publikum sofort in seinen Bann, die Zuhörer scheinen an seinen Lippen zu hängen. Ich bin schon mal hin und weg.

Für Pippo sind Improvisation („in Deutschland weiß man was das ist“) und Spontaneität die wahre Philosophie eines Soloprogramms. Er hat also nicht viel vorbereitet und freut sich über die künstlerische Freiheit auf der Bühne. Er braucht sich nicht zu teilen und auch nicht das Portemonnaie. Ungeteilte Aufmerksamkeit. Ganz nahe am Publikum. Unstreitbare Vorteile.

Pippo nimmt sich also viel Zeit zum Erzählen seiner Geschichten – mit und ohne Noten. Er liest eine Episode aus „Camminando Camminando“ von den Anfängen mit der Band Agricantus und vom Umgang mit gesellschaftlichen Regeln in der gutbürgerlichen sizilianischen Gesellschaft, die er alsbald für sich ungültig erklärt und für unangebracht hält und sich im Herbst 1985 auf seine lange Reise in fast alle Länder dieser Welt begibt. Pippo vorlesend in dieser liebenswert typisch italienischen Sprachmelodie klingt so sympathisch und heiter. Du Schelm! Ich bin heilfroh, dass man in der Schweiz alles lernen kann, bloß kein Hochdeutsch.

Enzo lebt seit einiger Zeit in Deutschland. Ihm gefällt, wie hier alles klappt und funktioniert, das warme wie das kalte Wasser der Dusche, die Post, eben einfach alles. Sein sizilianisches Gitarrentemperament hat er mitgenommen. Eine gerissene Saite während eines furiosen Solos erschüttert ihn keineswegs. 160 cm hoch und ein ganz Großer, wie Pippo mit Recht sagt! Ihr beide passt super zusammen, ergänzt euch, spielt euch mit Elan und großer Leidenschaft in mein Herz. Centopassi – was für eine Nummer! Auch eines dieser im Lied festgehaltenen Momente aus deinem Leben. Traurige, einsame und glückliche. Bisher wusste ich nicht, dass auch Pippo ein hervorragender Saitenkünstler ist. Eigentlich verständlich, für die Straße als Schule wäre ein Keyboard oder Piano sicherlich ein wenig unhandlich gewesen. Sensationell, was die beiden da abliefern, ich glaube es ist In compagnia di Mr. Hyde, einfach klasse! So etwas ist im Bandgefüge ein bisschen untergegangen, es lebe das Soloprogramm zu Zweit!

Pippo erzählt vom zwiespältigen bedrückenden Gefühl, in seinem Heimatland unbekannt, ein Nobody, in der Musikszene zu sein. Es hat ihn sehr beschäftigt, seine Spuren verloren zu haben. Als er nach 13 langen Jahren wieder erstmals in Italien spielte, war das ein großer Moment. Und heute noch braucht er ein paar Konzerte zur Eingewöhnung, denn es passiert ihm manchmal, dass er deutsch zu seinen Landsleuten spricht. Von den Gedanken und Gefühlen, als er wieder ein Konzert in seinem Heimatland spielte, handelt Questa sera. Wanderer zwischen den Welten haben es manchmal schwer, werden aber großartig belohnt mit Eindrücken und Erlebnissen, Begegnungen, die das Leben schreibt und dann zu Liedern werden.

Pippos Lieder sind Balsam für wundgehörte Ohren und Therapie gegen Überdrehen. Harmonien, Akkorde, Gitarrensaiten geschlagen und gezupft, fließende Töne und dazu diese kraftvolle kehlige erdige Stimme … Manchmal sind es Fernwehlieder von überall her wie Marrakesh, die die Sonne, die Stimmungen und die Farben wie aus Luftspiegelungen einfangen und festhalten, daran kann ich mich besoffen hören! Aber das ist nur die eine Seite der Lieder, in ihnen steckt noch viel mehr!

Laut und stark erhebst du deine Stimme gegen Gewalt, verurteilst den hohen Preis der Lügen für die Rechtfertigung des Irakkrieges. Du bist ein guter Beobachter und kritischer Nachdenker, wenn du mit Scharfsinn die politische Landschaft Europas und der Welt betrachtest. Stellst keine großen Unterschiede mehr fest zwischen Links und Rechts, auf eine Linie ge-Bush-t, den Konflikt Ost-Westkultur angefeuert. Am Schluss sprechen immer die Waffen, das Gesetz des Stärkeren zählt. Große Dinge wachsen immer aus kleinen Dingen. Lieder für den Frieden und gegen den Krieg sind immer gut und leider immer aktuell und ein Muss für jeden Songwriter. Der Pilot, der sich entschließt, die Bombe nicht abzuwerfen, ist der wahre Held! Ein flammendes Statement gegen den Irak-Krieg. Pippo spricht darüber mit Ernsthaftigkeit, aber er belehrt nicht, der erhobene Zeigefinger bleibt unten. La luna e i falò beginnen Enzo an den Saiten und Pippo am Piano verhalten und rocken nach hinten raus richtig los.

Vor der Pause gibt es noch eine faustdicke Überraschung, Enzo fordert mit einem Gitarrensolo das Publikum zum spontanen Applaus und Pfiffen heraus und Pippo zu einem furiosen Duell voller übersprühender Dynamik. Wie ein Wirbelwind bearbeitet er das Tamburin. Legt los wie der Teufel höchst selbst. Echte „Pollinianer“ kennen das natürlich längst, aber ich bin vollends von den Strümpfen! Jesses, das ist sizilianisches Temperament hoch zwei.

Ich staune immer wieder, wie fließend Pippo die Sprachen wechselt, Französisch, Englisch vermischen sich in den Liedern, Liedsprache italienisch, Umgangssprache Deutsch. Wenn er dort gerade nicht die richtigen Worte findet, geht’s im fliegenden Wechsel in seine Muttersprache und zurück. Aber welche ist deine Herzenssprache, Pippo? In welcher Sprache träumst Du? In welcher Sprache denkst du? In welcher Sprache lebst du?

Nach der Pause starten die beiden mit Sambadiò, gebrauchen die Gitarren mehr als Rhythmusinstrument denn als Melodie- und Akkordelieferant. Ich freue mich riesig – „Milchstraßenlang“ - über Terra, und Bella Ciao wird natürlich beherzt und begeistert mitgesungen. Dann wird es wieder etwas ruhiger mit einem unendlich zarten Questo amore und etwas wehmütig mit Ciao ciao bambina.

Pippos Widmung Il giorno del falco an Victor Jara gefällt mir in dieser unplugged Version unglaublich gut! Toll! Ich versuche vergeblich in den Rhythmus zu kommen. Dann auf einmal bekannte Töne aus einer benachbarten Musikwelt sozusagen. Questa nuova realtà kokettiert Pippo in Wecker-Manier, bearbeitet sein Piano, stampft mit dem Fuß und imitiert ganz kurz nur die Stimme Konstantin Weckers. Der scheint neben ihm zu stehen. Sehr köstlich ist das und wird mit viel Applaus belohnt! Pippo hat das Thema aufgegriffen, nachdem viele Zuhörer nach dem geplanten Konzert der beiden hier in Altenkirchen gefragt haben. Vielleicht klappt es im September.

100 Zuhörer können ordentlich Krach machen und hartnäckig sein, wenn Zugaben eingefordert werden. Die ersten Takte von Amsterdam am Piano werden gleich erkannt und beklatscht! In Il Pianista di Montevideo beschreibt Pippo in einem leisen Lied seine Begegnung mit einem Pianisten aus Montevideo in einem Schweizer Hotel. Pippo schämte sich damals ein wenig für die Menschen, die diesem begnadeten Musiker so wenig Beachtung schenkten. Doch dieser hatte seinen eigenen Weg gefunden, damit umzugehen. Er meinte, der innere Autopilot stelle eine gewisse Distanz zur Wirklichkeit her und ließe Träume zu. Vielleicht ist es aber auch ein Stück eigener Geschichte? Enzo schleicht sich erst aus dem Lied und dann von der Bühne und überlässt Pippo die Verabschiedungszeremonie. Wir bekommen noch eines dieser „Wunderlieder“ geschenkt, eines, das das Glück hatte, aufgeschrieben zu werden, irgendwann einmal… nach einer Begegnung mit einem Straßenmusiker aus Conneticut…. Welcome Home….

Heute Abend habe ich ein sehr persönliches, offenes Gesicht kennen gelernt, Pippo. Mit einem Soloprogramm unterwegs hast du natürlich viel mehr Zeit für Themen, die dir am Herzen liegen. Aufrichtig und voller Wärme und auch mit viel südländischem Humor, Esprit und Charme. Enzo ist ein ebenbürtiger Begleiter, ihr beide versteht euch blind. Er setzt Akzente und ist ein Feuervogel an den Saiten. Und niemand sonst dreht wohl so perfekte Saitenkringel auf die Gitarrenknebel!

Ich vermag nicht zu sagen, welches Instrument dir näher liegt, Pippo – Gitarre oder E-Piano. Das war heute Abend gut zu dir, es hat dich gut begleitet. Deine Stimme und die Gitarren geben deinen Liedern noch einen Touch Singer-Songwriter-Feeling mit. 20 Jahre ist Pippo auf deutschen Bühnen unterwegs. Ich bin froh, dass sich unsere Wege endlich gekreuzt haben!

Christel Amberg-Wiegand für www.erlebtemusik.de

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