04. April 2009 - Pippo Pollina à la carte, Mannheim Schatzkistl

Das Ristorante Da Pippo.
von Christel Amberg-Wiegand

Schatzkistl – Nomen est omen! Manche Schätze liegen oben auf, andere werden sorgfältig entstaubt und glänzen wie neu. Pippo geht mit seinem A-là-carte-Programm zurück an den Beginn seiner Zeit als Troubadour der Straße und wieder-entdeckt dabei lange Un-erhörtes. Er hat ein einfaches Rezept: wir wünschen, er spielt. Und wenn wir uns nix wünschen - spielt er.

„Wie in einem italienischen Ristorante werden manche Speisen aus sein“, … aber das kann ich ihnen empfehlen…“, schmunzelt er und schlägt die ersten Akkorde von Insieme an „… Freund, bleib einen Augenblick noch hier …“. Dieser Apéro öffnet alle Sinne und macht hungrig.

Anfangs erschlägt ihn fast der Hall, aber das ist schnell im Griff. Mit Camminando ancora spielt er sich dann frei. Für Bossa in viaggio greift er in die Saiten seiner Gitarre, deren Klang mit Pippos Stimme zusammen so sündhaft und unwiderstehlich ist wie Krokant auf Sahne. Der heitere Bossa Nova ist eine kleine Entführung in eine andere Musikwelt, fast möchten die Füße tanzen. Und dann erzählt Pippo, was ihn umher trieb zu diesem Programm. A là carte – einhundertfünfunddreißig Lieder stehen auf der Liste, die muss er parat haben, dieser Palermitaner muss ein bisschen verrückt sein!

Nein, es ist die Lust, sich wieder allein seinem Publikum zu stellen, wie vor bald 25 Jahren, als die Straße seine Bühne war. Routine erstickt jede Inspiration, hier können die Lieder wieder an ihren Ursprung zurück gelangen. Pippo spielt sie mit dem Geist der Vergangenheit, die damals noch Zukunft war. Seine Lieder klingen, als seien sie gerade erst auf die Welt gekommen, mit diesem ersten Herzschlag, dieser Unschuld, dieser Erwartung und mit der Spannung des ersten Augenblicks entlassen. So wie er damals nicht wusste, was passieren wird und wohin der Weg führt, lässt er sich in den Abend hineintreiben.

„Was möchtest du hören? Aha, Questa nuova Realta… warum? In Kaiserslautern mit Konstantin Wecker gehört, ahh ja…, jetzt klingt es wunderbar leicht, warm, er spielt es auf seine Art, nimmt die Wucht ein wenig raus, eine leichte Melancholie klingt an, „Was für eine Nacht…“ da weckert er ein wenig in der Stimme und lacht spitzbübisch dabei. In mir ist kribbelige Aufregung. Ich möchte so gern soooo Vieles hören, es sind so viele Raritäten auf dieser Menükarte.

Pippo erinnert sich an seine erste Tour, die ihn auch nach Ludwigshafen führte, 11. Januar 1991, der erste Golfkriege war angezettelt, es war so viel Trauer und Wut auf der Straße zu spüren und er versucht mit seiner Musik, etwas dagegen zu halten. Da traut sich wieder jemand … „ein guter Wunsch“, ja, I giorno del Falco, Victor Jara, ist ihm immer eine Herzensangelegenheit und so lässt er seine Gitarre sprechen für zig Tausend ermordeter Menschen in Chile, Künstler, Musiker, denen man brutal die Hände abhackte. Doch ihre Gedanken und Musik werden in die Welt getragen und sind frei. Es ist ein Vermächtnis. Lieder, wenn sie einmal gesungen sind, gehören allen Menschen, nicht mehr dem Sänger allein – ganz und gar mit diesem Hintergrund. Solche Zwischenzeilen markieren Pippos Lieder wie Messpunkte an seinem Weg.

Ich hatte ja nicht damit gerechnet, dass Pippo mich „drannehmen“ würde. Das tut er dann aber doch und wir tun, als kennen wir uns nicht. Woher ich komme („auch von so weit her!?“) und wie ich heiße, möchte er wissen, und natürlich meinen Liederwunsch. Viele, aber dieser eine ist mir besonders wichtig. Als ich ihn das erste Mal hörte, ich weiß nicht mehr wann, hatte ich plötzlich Tränen in den Augen und einen dicken Kloß im Hals. Das verrate ich ihm aber nicht. Erst später habe ich gegoogelt, was an diesem „19. Juli 1992“ geschah. Pippos Lieder sind niemals einfach nur Lieder, er schreibt nicht darüber, weil an diesem Tag die Sonne schien. Pippo, in echter italienischer Verzweiflung, schlägt sich die Hände vor’s Gesicht „falsche Pizza“ und sucht nach dem Text…. „eine echte Herausforderung, das hab ich lange nicht gespielt“, freut er sich. Das war mir auch aufgefallen. Diese ungeheure Intensität packt mich wie ein gnädiger Nebel, er lässt nichts sonst durch. Pippo kniet sich tief da hinein, rau, leidenschaftlich, ist es Ohnmacht oder Trauer, jeder Ton, jedes Wort ist ihm wichtig und die Gitarre ist seine Verbündete … der Applaus dann echot sein Spiel noch und noch.  

Das Tamborello-Stück pflegt Pippo ja seit einiger Zeit auf seinen Konzerten. Heute Abend ist da nichts außer Pippo, nichts außer seiner Stimme, ja, er singt dazu, ich höre es so das erste Mal. Kein Instrument, keine Band, die ihn hält, es trägt ihn allein sein Temperament irgendwohin aus sich heraus und nach einer wunderbaren Ewigkeit wieder zurück. Gut, dass jetzt Pause ist, Zeit mich aufzuräumen. Pippo, mit welcher Stimme bist du bloß, was ist es, das mich immer wieder wie unter Strom stellt? Deine Lieder graben sich tief ins Herz, in den Kopf oder wabern als flaues Gefühl umher, machen Gänsehaut, und zwar von innen.

Immer neue, fast verschüttete Erinnerungen tauchen auf…. Österreich, Sommer, Urlauber, Hotel … und ein nicht ablehnbares Angebot, …. aber eines, das Pippo unsichtbar werden lässt und fast sich selbst verleugnend. Dann war da Micha, und mit ihm ein bisschen Freundschaft, weil nicht wer du bist ist wichtig, sondern deine Worte. Sie tauschen Geschenke aus, ein Buch, eine Kassette, und verlieren sich aus den Augen aber nicht aus dem Sinn. Micha heißt mit Nachnamen Ende, doch dieses Aha! kommt erst viel viel später. Camminando ist aus dieser Zeit. Solche großen Kleinigkeiten machen Pippos Lieder echt und wahrhaftig. Schön, wohltuend, wertvoll, alles das waren und sind sie mir immer. Jetzt hat manches Lied mehr einen Hintergrund, eine Biografie. Ich kann sie mit Heißhunger verschlingen. Und wenn ich mag, mich an die Zutaten erinnern.

Und dann gibt es da noch Lieder, die gehören zur DNA eines Volkes, Pippo nennt das so, sind unsterblich wie Bella Ciao. Das Publikum steigt natürlich! ein und ist dann wieder andächtig still für Terra, dieser innigen Liebeserklärung an die vertrauten Krümel Erde unterm Schuh „… die Sterne verblassen und der Mond erlischt… Milchstraßenlang“. Malatesta, Pippo singt und erzählt von diesem Powertyp, Sizilianer wie er. Ihn machte Aids die Zeit kurz, aber unendlich reich. Er konnte im Hier und Jetzt sein. Das war 1994 oder so. Centopassi, die Sache mit den Utopien, den Träumen, die uns Leben ermöglichen, weil sie uns weiter bringen… das ist aber glaube ich schon die dritte Ebene … traumhaft und glasklar perlen die Töne aus der Gitarre. Unzählige Male habe ich Il ragazzi della via paal gehört, La Luna e i falò und mein persönliches Mantra „unterkriegen lass ich mich nicht“ Suotto la Ruota, er fetzt es auf der Gitarre wie es nur geht, auch dieses Lied hat so viele Leben. Auf der Rosso Cuore sind alle Titel Romantitel italienischer Schriftsteller, Pippos Gedanken zu… Bekanntes wird plötzlich neu.

Das Ristorante Da Pippo wird bald schließen. Nach seiner Zeitrechnung ist es schon kurz vor drei. Vielleicht sind wir schon beim Espresso. Il cameriere del principato bekommt Tempo, Il giorno di settembre erzählt in drei Minuten eine Geschichte, dann noch ein Wunsch, Amica mia, einfach, weil es an eine schöne Zeit erinnert. Lieder, Musik überhaupt, sind so, sie beamen einen direkt in eine andere Zeit oder an ein vergessenes Gefühl.

Pippo ist eigentlich schon am gehen, er hat den Fuß schon fast in der Tür, immerhin ist er schon beim 23. Titel angelangt, da bremst ihn etwas. Dieser Abend hatte eine gute Stimmung, ein vertrautes Feeling mit Überraschungseffekten. Pippos Idee hinter diesem Programm geht voll auf. Wo sonst hat man so viel Einfluss aufs Programm? Ja, mal einen Wunsch, das ist leicht, aber dieses Ding zum Thema machen, dazu gehört auch Mut - und Vertrauen in sein Publikum. Solche Abende haben ihre eigene Dramaturgie und Wünschen und Schenken ist ein beidseitiger Lustakt. Als wollte er uns noch etwas da lassen, nicht vergessen, vielleicht spontan ausm Bauch steht Pippo kaum einen Schritt vor der ersten Reihe, ohne Gitarre, kein Mikro, kein Strom und singt, wie ich ihn ganz ganz selten gehört habe, offen, ungeschützt, wie nackt, es ist ein Moment von Intimität, von Nähe, die ein weit offenes Herz gibt und für den man bereit sein muss. Der Raum wird beinahe zum Vakuum, die Zeit vergeht nicht, sie ist einfach. Versi per la Libertà - als der letzte Vokal noch über den Köpfen schwebt, passiert erstmal gar nichts. Absolute Stille. Beklemmend. Dann bricht ein riesiger Danke- und Auf-Wiedersehen-Applaus los.

Dieser Abend war wie ein Schlaraffenland. Eine Genussreise durch Pippos Menükarte, eine herrliche Völlerei. Und morgen werde ich wieder Hunger haben.

Christel Amberg-Wiegand für www.erlebtemusik.de