05. Juni 2010 - Pippo Pollinas & Ultimo Volo in der Kammgarn Kaiserslautern

Pippos symphonisches Meisterwerk

von Christel Amberg-Wiegand

Ich bin sprachlos und stumm vor so viel Richtigkeit und Größe. Es ist ein überwältigendes Erlebnis. Ultimo Volo ist schlicht ein Meisterwerk von Musik und Worten, die das Geschehen am 27. Juni 1980 und der folgenden Jahre bis zum Museo Per La Memoria in Bologna erzählt. Pippos Bemerkung vor einigen Jahren, er schreibe eine Oper, hatte ich längst vergessen. Ehrlich gesagt konnte ich mir darunter auch rein gar nichts vorstellen. Seit nun diese „Oper, Musiktheater, ziviles Gebet“ die Bühnenwelt betreten hat, bin ich einmal mehr voller Hochachtung. Jetzt endlich, am 5. Juni und vielleicht zur letzten Aufführung zumindest in D, komme ich in den Genuss. Ich habe nicht das einzige Mal Herzklopfen, als noch von der Probe der Bolero bis ins Foyer klingt. Als später der Saal geöffnet wird, kommen weit weit weniger Menschen, als erhofft und als es dieses Werk verdient hat. Schade. Kaiserslautern! Ramstein! Da ist doch die schicksalhafte und offensichtliche Verbindung der Flugzeugkatastrophe zu Ustica. Falls da Enttäuschung war, hat sich dies keiner der Beteiligten anmerken lassen – im Gegenteil habe ich das Gefühl, dass alle mit größter Intensität, Anspannung, Ernsthaftigkeit ans Werk gehen. Was zählt ist die Musik, die Aufführung, das Jetzt.

Was mich von Anfang an tief beeindruckte, ist die poetische Sprache, die Kraft darin Unsagbares in Bildern auszudrücken und auch die ungewöhnliche Perspektive des erzählenden Flugzeugs, die Pippo wählte und es so einer handelnden Person werden lässt. Dieser niemals endende Schmerz drückt sich in Worten aus, die an keiner Stelle, in keiner Zeile, an keiner Station der Reise, noch nicht einmal am tiefsten Punkt des Meeres, Hass, Verzweiflung, Lebensmüdigkeit, in sich tragen. Dabei wäre das doch nur allzu verständlich. Nein, dieses Stück Ultimo Volo ist vom ersten Takt bis zum dramatischen Schlussakkord durchdrungen von einer großen unendlichen Liebe. Die macht es erst möglich, diesen steinigen Weg durch vernagelte Instanzen, Behörden- und Staatswillkür, zu und über sich selbst hinaus über diese sieben Jahre durchzustehen, die es dauerte, bis das Wrack geborgen und endlich einen angemessen Ort für lebende Trauer gefunden hat. In der deutschen Übersetzung geht davon sicher kein My verloren – herzlichen Dank dafür! Günter Brombacher gibt dem Flugzeug seine Stimme. Die Monologe erzählen von der Kunst des Fliegens, der Erhabenheit in den Lüften, aber auch von der Einsamkeit in absoluter Stille und Dunkelheit in den Tiefen des Meeres. Ein Wrack ist vom stolzen Überflieger übrig geblieben, den zerstörten Rumpf voller Dinge, die von einer Sekunde auf die andere zu einem traurigen Relikt wurden. Wir erleben die Konfrontation und die  Auseinandersetzung mit dem Flugzeug, welches sein Schicksal teilt, seinem Gegenüber, er nennt es „Bruder“, und letzte die Reise nach Bologna. Beim Lesen des Programmheftes hatte ich eine andere Stimme im Kopf, vielleicht brüchiger, knarziger, älter, weise… deshalb bringe ich diese mit der im meinen Kopf nur schwer übereinander.

Am Ende steht so etwas wie die Abrechnung mit dem was einmal das „Vaterland“ bedeutete. Das Vaterland, das die Freiheit der Wahrheit mit Füßen tritt und Verachtung und Demütigung einer Demokratie in Kauf nimmt. Im letzten Teil bündeln sich Mut, Enttäuschung und Verzweiflung in einem einzigen aufwühlenden Satz: „und dieses Land, verehrter Herr, ist heute mein Land.“ Anne Osterloh und Holger Kraft leihen den Opfern, den Getöteten, den Gebliebenen und auch den staatlichen/militärischen Betonköpfen und Gegnern am längeren Hebel gegen die Wahrheitsfindung in lebendigen Dialogen ihre Stimmen. Für die, deren Aufgabe es nun ist, mit den Toten zu leben, bedeutet es Unsterblichkeit. Der Beginn des ersten Dialoges sagt alles: Im Herzen derjenigen weiter zu leben, die zurückbleiben, heißt nicht sterben (Harold Robbins).

Die Streicher und die Band nehmen ihre Plätze ein, ein verhaltener Applaus begleitet Pippo an den Flügel. Die Musik ist ein nicht enden wollender Fluss, aufwühlend und ergreifend, sie trifft direkt auf die Verbindung Kopf, Magen, Herz und ein Stein ist der, der nicht die Emotionen fühlt, die jedes Wort und jede Note begleiten. Die mal ruhigen, mal rhythmischen Melodien entwickeln eine ungeheure Kraft und Dynamik und strahlen diese Erhabenheit aus, die schon in den Worten liegt. Die Streicher des Pfalztheaters spielen präzise und leidenschaftlich und mit dem Palermo Accoustic Quintett einen fesselnden, ebenbürtigen Dialog. Schlagzeug und Bass, die einfühlsame Gitarre und dieses göttergleiche Saxophon, in dem die Leichtigkeit des Fliegens, tiefe Trauer und endloser Schmerz sich vereinen, vollenden sich in einer Sternstunde. Spannung pur und umso mehr, weil es keinen Applaus zwischen den Liedern und den Dialogen gibt. Ich weiß, symphonische Konzerte werden erst am Ende beklatscht. Hier wäre es erlaubt und vielleicht auch gewünscht. So baut diese fast unerträgliche Befangenheit über eine lange Zeit eine Spannung auf, die sich erst mit dem Herzstück Canzone Quarta auflöst. Als eeendlich! der erste Applaus herausbricht, weil es sonst nicht auszuhalten wäre, ist er wie eine Befreiung und ein Lächeln begleitet die Blicke ringsum auf der Bühne. Nur die Einzigartigkeit jeder Aufführung bringt solche Momente. Pippo selbst strahlt außergewöhnliche Präsenz und Bühnenautorität aus und gibt damit vielleicht noch einen zusätzlichen Kick. Mit einer Ruhe und Konzentration gibt er sich ganz in seine Musik. Am Flügel wird er eins mit den Tasten, an der Gitarre strahlt er mit jedem Ton von innen heraus. Dazu seine Stimme, die mühelos die gesamte Dramaturgie, jeglichen Schmerz aber auch das Aufbegehren gegen dieses schreiende Unrecht in jeder Silbe und auch dem Dazwischen mit einer Klarheit, Aufrichtigkeit und Leidenschaft ausdrückt, die seines Gleichen sucht. Das macht einfach Gänsehaut unter der Haut.

Der Bolero am Ende des Stückes vereint die ganze Dramatik dieser Tragödie in einem unendlichen spannungsgeladenen an Tempo zunehmenden Stück bis zu diesem schicksalhaften Moment in der Luft und reißt alle(s) mit sich. Danach folgt erstmal Stille. Und dann Applaus. Stehende Ovationen, lange, begeistert, überwältigt von dem was gerade verklungen ist. Das große Danke an alle Beteiligten ist viel viel mehr als gebotene Höflichkeit, die Freude über die gelungene Aufführung steht Pippo und allen anderen ins Gesicht geschrieben. Er fasst noch einmal kurz die Geschichte dieses Blutbades mit all seinen dramatischen Wendungen und ungelösten Geheimnissen zusammen und wir lassen die Musiker nicht ohne Zugabe von der Bühne. Noch einmal der Bolero.

Ultimo Volo ist ein Appell gegen das Vergessen. Es ist ein Vermächtnis und eine Ehrerbietung an Opfer, die Lebenden und die Toten. Es ist ein leidenschaftlicher Aufruf für Aufrichtigkeit, Würde und Stolz jedes Einzelnen und nicht zuletzt ist es ein Plädoyer für die Liebe. Sie hat das alles erst möglich gemacht. „denn für die Liebe und für nicht anderes haben sie mich in einem Mosaik von Schmerz und Leidenschaft wieder zusammengesetzt. Aus Liebe, und nur dafür, haben sie mir beigebracht zu sprechen und euch in die Augen zu sehen. Aus Liebe, und nur dafür, habe ich die Idee angenommen zum Denkmal für die Opfer zu werden.“ (Sechster Monolog).

Christel Amberg-Wiegand für www.erlebtemusik.de