16. Januar 2010 - Pippo Pollina & Orchestra Altamarea in Wiesbaden

Ein konzertanter Ausflug ins Kirchenschiff
von Christel Amberg-Wiegand

Pippo erwischt mich auf dem falschen Fuß, ich bin gerade ganz anders gepolt – auf einem anderen Musiktrip. Nur – Pippos Nische ist immer frei und es ginge ganz bestimmt nicht mit rechten Dingen zu, wenn es nicht so wäre wie es eigentlich immer ist und so auch heute: er tritt ein, nimmt Platz und macht alle gegenwärtig hochkarätigen Musiktrips klein, zerbröselt sie und schiebt sie an den Rand.

Spätestens mit Ultimo Volo überrascht Pippo mit seinen Ausflügen ins klassische  Fach. Der ebenso spannende wie überraschende Ausflug blieb mir live leider verwehrt. Jetzt hat er sich auf das klassische Streichquartett, zwei Geigen, Bratsche und Cello, reduziert. Was treibt ihn dahin? Er muss sich doch mit seiner Liebe zur Improvisation zügeln und einer festen Struktur unterordnen. Er nimmt sich seine Freiheit - und eröffnet sich wieder einmal eine neue Welt. Es ist eine neue Erzählform seiner Lieder. Auch diese Konzertsituation passt wie angegossen. Der Gänsehautfaktor ist hoch. „Musik ist eine Sprache in sich“ sagt Pippo zu Beginn, jenseits der Noten einigte man sich auf Englisch. Dass es glückt, hat er bereits erfahren. Hier ist es noch mal anders, weil die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten eines Orchesters fehlen. Ist es also mehr Begleitung seiner Lieder? Nein. Das Quartett sitzt rechts im Halbrund neben ihm, Pippos Bühnenequipment ist wie immer, E-Piano, Gitarre… Wir warten schon ungeduldig, dann geht es los… Pippo beginnt mit Ancora camminando, solo, und in diesem Kirchenschiff wird seine Stimme mit dem Piano auf einmal unglaublich groß. Als dann mit Canzone Quarta das Quartett der Streicher hinzukommt, ist zum ersten Mal diese beinahe ehrfürchtige Stille zu spüren.

Dieses Konzert ist anders, als „normale“ Pippo-Konzerte. Die Lebhaftigkeit des Publikums fehlt, Mitklatschen geht gar nicht, so etwas wie Tanzen verbietet die Kirchenbank. Feedback ist allein der Applaus, der von Lied zu Lied größer wird. Am Ende gibt es stehende Ovationen und einen unerwartet langen orkanartigen Beifallssturm. Da schwingt etwas Besonderes jenseits von Begeisterung mit für das Gesamtkunstwerk „Pippo Pollina & Piccola Orchestra Altamarea“. Geteilte Freude verdoppelt die Freude. Pippo bedankt sich und applaudiert seinen Mädels im Laufe des Abends immer wieder. Später, als sie mit großem Bogen in Leo schwelgen, hängen sie noch ein Geburtstagsständchen für die Bratschistin Andra an und da geht das Publikum natürlich mit! Marrakesh ist eine erste gelungene Kostprobe von Temperament, so wie später auch der leidenschaftliche Tango des Pianista di Montevideo. Centopassi gefällt mir gut, das Cello gibt den Rahmen, die Geigen setzen die „100 Schritte“. Toll finde ich auch „La luna e i Falò“ mit der eingezupften Melodie zu Beginn. Dr. Jekyll und Mr. Hyde finden sich sehr treffend in Noten charakterisiert. Die vier Mädels beweisen großes Einfühlungsvermögen in Pippos Liederwelt, es macht wirklich Spaß, diese gespitzten Ohren, das Hinhören, die Blicke auf dem gemeinsamen Weg mitzuerleben. Manchmal wirkt es noch ein bisschen steif. Zu Beginn ihrer Tour ist die Freiheit noch eng begrenzt, das blinde Einverständnis  muss noch wachsen, noch hängen die Mädels sehr an den Notenblättern und selbst Pippo scheint manchmal wie in sich gefangen. Aber er ist und bleibt unbestritten der Chef, der seine Mädels mit Blicken und Gesten führt.

Im Großen und Ganzen bleibt Pippo nah bei „Fra due Isole“. Er wechselt zwischen Tasten und Saiten und wenn er sich in die Spannung und das Tempo eines Bolero hingibt oder das Tamburello-Stück „erlebt“, „Was für eine Nacht“ die Wecker-Art imitiert, umgeht er die Gefahr des allzu lieblich sehr souverän. Der zweite Teil ist daher auch etwas griffiger, lebendiger, lebhafter. Manche mögen das Ganze drumherum in der seltenen Kombi von Nebel, bunten Scheinwerfern, Kanzel und Taufbecken befremdlich finden. Warum nicht? Für mich ist das kein Stilbruch. Aber ein Konzert in einer Kirche hat seine eigenen Gesetze. Pippo hat es ähnlich empfunden. Nimm die gleichen Leute in einen anderen Saal und es wird ein völlig anderes Konzert geben, sagte er mir später. In einer Kirche verhält sich das Publikum völlig anders. Als Pippo so kurz nach drei Uhr gefühlter Zeit mit funkelnden Augen die Bühne verlässt, geht, so scheint es, ein anderer Pippo als sonst von der Bühne. Jetzt wo die Anspannung von ihm abfällt, wirkt er sehr sehr groß, stolz und unbändig glücklich. Mir liegen seine Solokonzerte und seine Zusammenarbeit mit Jean-Pierre von Dach & Co. und sowieso die Konzerte in der Art der Swiss-Connection mehr am Herzen. Auf diese klassische Schiene muss man sich schon einlassen, nix für Pippo-Puristen, aber eine lohnende Entdeckungsreise ist es allemal.

Christel Amberg-Wiegand für www.erlebtemusik.de